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2019/2020 - Regionalliga West

Rot-Weiss Essen – SV Rödinghausen (1:1)

Alles war angerichtet zur 113. Geburtstagsfeier an der Hafenstraße, eine volle Bude und gute Stimmung vor dem Anpfiff. Geschenke gab es aber leider von den Gästen nicht. Im Gegenteil, die Rot-Weissen luden bereits in der zweiten Minute die Rödinghausener zum Toreschießen ein. Im Anschluss konnten einige gute Chancen der Essener nicht verwertet werden, somit geht die Niederlage auch in Ordnung.

Vorbericht

Am kommenden Samstag darf sich die Essener Hafenstraße auf ein echtes Spitzenspiel freuen. RWE empfängt als Zweiter oder Dritter den Spitzenreiter Rödinghausen aus dem Wiehengebirge. Die Vorfreude ist da, aber auch die für Essen so typische Anspannung, die fast schon an Hysterie grenzt. Das Essener Umfeld und gewisse Medien haben das Heimspiel gegen den SVR bereits zum Schicksalsspiel auserkoren. Nichts anderes als ein Sieg zähle, sonst sei der Aufstiegstraum ausgeträumt, so hört man. Wie kommt man 15 Spieltage vor Ende der Ligameisterschaft zu solchen gedanklichen Schnellschüssen und warum darf man dennoch die Ruhe bewahren? Die Tabellensituation sieht zwar dramatisch aus, aber bei genauerem Hinsehen offenbaren sich relativierende Elemente.

Ein Grund für die Aufregung ist die schlichtweg überragend zu nennende Bilanz von gleich vier Teams aus der Spitzengruppe, die allesamt einen Punkteschnitt von über 2 aufweisen können. Neben unseren Roten sind dieses eben die Wiehengebirgler, mit Verl ein weiterer Ostwestfale und ebenso RWO. Der alte Revierrivale ist allen auf den Fersen und lässt sich seit Wochen nicht abschütteln. Zum Vergleich, im Vorjahr zog Viktoria Köln zu diesem Zeitpunkt der Saison noch einsam seine Kreise an der Tabellenspitze und hatte als einziges Team eine solche Bilanz. Da konnten sich die Kölner Südstädter auch eine durchwachsene Rückrunde mit gerade einmal 29 Zählern aus 17 Partien erlauben, wenngleich man förmlich nur noch über die Ziellinie robbte. Es fällt schwer zu glauben, dass das noch einmal für wen auch immer zur Ligameisterschaft reichen würde. Da baut sich Druck auf. Und dieser wird durch den Spielplan noch verstärkt. Rödinghausen verdankt seine Spitzenposition in erster Linie der Ungleichheit an ausgetragenen Partien.

Der SC Verl ist noch immer „virtueller“ Tabellenführer, hat aber satte 3 Partien weniger ausgetragen als die ostwestfälische Konkurrenz. Hierbei kommt so einiges zusammen. Vor Saisonbeginn wurde für eine 19er-Liga geplant, sodass ohnehin pro Spieltag eine Mannschaft spielfrei ist. Mit dem Rückzug von Wattenscheid 09 wurden es deren zwei. Eine Revision des Spielplanes wurde vom Verband nicht in Erwägung gezogen. Zudem gab es witterungsbedingte Spielausfälle. Da klafft die Tabelle zwangsläufig auseinander. Auch auf RWE kommt dieses Schicksal zu. An den kommenden vier Spieltagen pausieren die Roten deswegen gleich zweimal. Danach hinkt RWE ebenfalls 3 Partien hinter dem SVR her, der somit ein stattliches Punktepolster zwischen sich und andere legen könnte. Denn derzeit sind es komfortabel zu nennende 6 Zähler, die RWE weniger aufzuweisen hat. Am Ende des Tages wird die Anzahl der Spiele natürlich für alle Mannschaften gleich sein und Rödinghausen wird umgekehrt mehrfach tatenlos zusehen müssen, wie die Konkurrenz punkten könnte. So hat jede Medaille wie üblich zwei Seiten.

Noch ein Rechenbeispiel gefällig? Der SVR patzte bislang anders als RWE nicht in Spielen wie gegen Homberg. Aber wie sieht es mit den Mannschaften des Tabellennordens aus? In den direkten Duellen gegen die weiteren Mitglieder des Führungsquintetts holten die Gäste nur 2 Punkte von 12 möglichen. Zuhause gegen Verl und unseren RWE spielte man 1:1, auswärts unterlag man in Oberhausen und bei der Reserve der Kölner jeweils mit 0:1. Dass der derzeitige Ligaprimus eine alles abräumende Maschine ist, kann daher nicht behauptet werden. Im weiteren Saisonverlauf wird es zwangsläufig zu vielen Direktvergleichen der Spitzenteams kommen, in denen ebenso zwangsläufig auf einer oder beiden Seiten Punkte liegengelassen werden. Nach dem RWO-Spiel haben die Essener Rot-Weissen ihrerseits drei der vier Mannschaften aus der Spitzengruppe bereits hinter sich. Alle diese Partien zu Pflicht- und Musssiegen auszurufen ist daher als ein wenig voreilig einzustufen. Der Hysterie sollte hier Coolness entgegengesetzt werden. Sollte RWE nicht nur die Ruhe bewahren, sondern Rödinghausen sogar rasieren, würden wir uns natürlich nicht beschweren.

Am vergangenen Freitag in Köln trotzte die RWE-Mannschaft jedenfalls der Drucksituation. Dank des überragenden Amara Condé kehrte Essen siegreich vom Rhein zurück. Erst kurz vor Schluss stellte Rot-Weiss die Weichen auf Sieg. Zuvor ließ man wieder einmal sehr gute Gelegenheiten liegen. Die Chancenverwertung bleibt das große Manko im Essener Norden. Ein anderes Defizit scheint aber erfolgreich in Arbeit zu sein. Sehr wenig ließen die Gäste in Köln defensiv anbrennen. Die jungen Geißböcke bewegten sich meist nur im ungefährlichem Halbfeld mit der Kugel, im letzten Drittel war so gut wie immer Endstation, obwohl der Kölner Nachwuchs technisch sehr versierte Kicker in seinen Reihen hatte. In der defensiven Mittelfeldzentrale war in den Spielen zuvor häufiger eine Schwachstelle auszumachen, die sich mit diversen vermeidbaren Gegentoren verband, selbst gegen den Underdog Homberg. Neuzugang Jonas Hildebrandt konnte hier auf Anhieb einen guten Eindruck hinterlassen. Überzeugend zudem die Ruhe und Abgeklärtheit der Titz-Elf. Diese ließ sich von den ausgelassenen Chancen nicht aus dem Konzept bringen, arbeitete beharrlich weiter und schlug dann passend zu den Außentemperaturen eiskalt zu. Attribute, die die Essener auch am Samstag gegen die sehr spielstarken Rödinghausener benötigen werden.

Die Truppe von Enrico Maaßen hat mit Simon Engelmann den erfolgreichsten Torjäger der Liga in ihren Reihen. Phasenweise traf Engelmann nach Belieben, so auch im Hinspiel bei der Punkteteilung gegen RWE. Rödinghausen auf Engelmann zu reduzieren, wäre jedoch gefährlich. Seit einiger Zeit scheinen sich die gegnerischen Mannschaften deutlich besser auf Engelmann eingestellt zu haben, dessen Erfolgsquote gesunken ist. Dieses war anfangs auch mit einer punktetechnischen Durststrecke der Grün-Schwarzen verbunden, denn wenn das Zugpferd nicht trifft, gibt es des Öfteren sogleich offensive Nullnummern. Beim knappen 2:1 Erfolg über Bergisch Gladbach am vergangenen Samstag traf Engelmann wieder, allerdings „nur“ vom Elferpunkt. Derzeit punkten die Rödinghausener wieder konstant, auffällig ist aber, dass die Siege knapper ausfallen als zu Saisonbeginn. Das mag ein Luxusproblem sein, lässt die Verantwortlichen im Wiehengebirge aber offenbar nicht kalt. Daher angelte man sich den Ex-Kapitän der insolventen Wattenscheid 09 Nico Buckmeier, der als torgefährlich gilt. Zuletzt sprang häufiger Mittelfeldroutinier Felix Backszat in die Bresche, sechsmal traf der Ex-Kölner und ist damit ebenso erfolgreich wie Lars Lokotsch als zweitgefährlichster Angreifer. So richtig auffangen kann einen Engelmann also auch niemand. Ihn aus dem Spiel zu nehmen wird daher ein Schlüssel des Erfolges sein, zumal Rödinghausens Neuner nicht nur ein Näschen für den Torabschluss besitzt, sondern aufgrund seiner technischen Versiertheit auch als Zehner durchgehen kann. Erhöhte Wachsamkeit sollte neben den bereits genannten Akteuren auch Eros Dacaj gelten. Der auf der linken Außenbahn beheimatete Offensivakteuer verfügt über Profierfahrung bei Eintracht Braunschweig. Sein direkt verwandelter Freistoß war im zähen Ringen gegen Bergisch-Gladbach der Brustlöser für den SVR, der sich lange schwergetan hatte.

Bei Anstoß im Stadion Essen am Samstag wird endgültig die Kaderfrage für den Rest der Saison geklärt sein. Am 01.02 ist das Transferfenster geschlossen. Dem Werben der Steinbacher um Florian Bichler haben die Essener nach anfänglicher Absage schließlich doch eine Zusage erteilt. Sicherlich finanziell nicht ganz uneigennützig. Am Dienstag löste Benjamin Wallquist seinen Vertrag bei RWE auf und wechselt nun wie spekuliert worden war in seine österreichische Heimat. Eher unwahrscheinlich ist, dass ein weiterer Spieler RWE noch verlassen wird. Enzo Wirtz hat seine Aktien bekanntlich selbst so in die Höhe getrieben, dass er für RWE in diesem Winter kein Wechselkandidat mehr ist. Für Robin Heller und Jonas Erwig-Drüppel gibt es offenbar keine ernsthaften Interessenten. Jonas Hildebrandt wird Stand der Dinge der einzige Essener Neuzugang sein. Allerdings zauberte RWE auch ihn relativ überraschend aus dem Hut. Womöglich kommt auf den letzten Metern noch wie gewünscht ein neuer Innenverteidiger und/oder torgefährlicher Offensivmann. Ob Hildebrandt sein Heimdebüt im RWE-Trikot als Tabellenzweiter oder Dritter feiern darf, hängt vom Resultat des SC Verl am Freitagabend gegen den SV Lippstadt ab. Aus bereits geschilderten Gründen kehren die Verler erst nach 9 spielfreien Wochen aus der Winterpause zurück. Bereits ein Remis würde ihnen reichen, um RWE in der Tabelle wieder zu überflügeln. Die Hoffnung der Konkurrenz wiederum beruht darauf, dass der SCV nach der deutlich längeren Pause nicht so gut in den Tritt kommt. Der Nachbar aus Lippstadt kam mit einem 2:0-Erfolg über Gelsenkirchen II jedenfalls gut ins Fußballjahr 2020 zurück und wird an der Poststraße überraschen wollen.

Die letztendlichen Aufstiegsambitionen der Gäste sind ebenfalls noch immer ungeklärt. Eigentlich wollte man bereits im vergangenen Herbst bekanntgeben, ob man sich in dieser Saison für eine Drittligalizenz bewerben möchte, worauf letztes Jahr verzichtet worden ist. Am Geld mangelt es mit Sicherheit nicht, denn das Häcker-Küchen-Werksteam kann sich der Verein fast gänzlich ohne Aufwendungen aus dem operativem Geschäft allein aus den Zuwendungen seines Hauptsponsors leisten. Offiziell geht es meist um die Drittligatauglichkeit des Häcker-Wiehenstadions, das ebenso wie sein Verein gewisse Widersprüchlichkeiten bereithält. Eine kleine, aber todschicke und moderne Haupttribüne, keine Hintertortribünen und ein auf reine Stehplätze reduzierter Gästebereich auf der Gegengeraden, auf der die Sicht für die Besucher katastrophal schlecht ist. Die erforderliche Zuschauerkapazität von 10.000 Plätzen hält die Rödinghausener Spielstätte derzeit nicht annähernd parat. Das ist unabhängig davon zu sehen, dass diese Plätze wohl die gesamte Vereinsgeschichte über niemals tatsächlich benötigt werden würden, sondern ist eine Auflage für die Dritte Liga. Das Aufstellen von Stahlrohrtribünen hinter den Toren könnte das Problem aber lösen.

Bereits vor längerer Zeit soll der Verein eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben haben. Warum der SVR sich hierzu noch immer nicht abschießend geäußert hat, wirft Fragen auf. Womöglich fürchtet man auch den wachsenden Druck auf Team und Verein, wenn Aufstiegsambitionen einmal offen formuliert worden sind. In gut vier Wochen wird Rödinghausen jedoch Farbe bekennen müssen, denn das Fenster für den Drittligaantrag ist keine Ewigkeit geöffnet. Unsere Essener werden hoffentlich auf der sportlichen Ebene dafür sorgen, dass der SVR sich nicht in letzter Konsequenz mit der Dritten Liga beschäftigen müssen wird. Eine sicherlich stattliche Zuschauerzahl wird Essens Aushängeschild von den Tribünen und Logen aus bei diesem Unterfangen stimmgewaltig unterstützen, denn in dieser Hinsicht wird sicherlich niemand in Essen Ruhe bewahren. Den Amigos und ihrer Mannschaft wird RWE jedenfalls ordentlich einen auf den Sombrero geben wollen. Packen wir es an!

NUR DER RWE!

Sven Meyering

Fotos by M.R.

Fotos by M.E.

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