Bereits seit 2005, als Hibernian Edinburgh zuletzt in Essen zu Gast war, hatte die Essener Fanszene auf ein Rückspiel in Schottland gehofft. Fünf verschiedenen Vereinsführungen wurde in den Ohren gelegen, bis es 20 Jahre später endlich zur lang erhofften Tour auf die Insel kommen sollte.
Eine Stadt im Reisefieber
Die Vorfreude auf das Spiel war in der ganzen Stadt spürbar. Bereits nach der Ankündigung des Spiels im Februar wurde in den Rüttenscheider Kneipen besungen, dass es eines Tages nach Schottland gehen wird. Letztlich waren es unfassbare 2.200 Essener, die sich auf den Weg machten. Mit dem Auto, mit dem Zug und vielfach mit dem Flieger. Über Düsseldorf und Köln, genauso wie über Amsterdam und Brüssel. Per Direktflug oder mit Umstieg. Sämtliche Routen wurden in Beschlag genommen, nachdem die Flugpreise bereits am Tag der Spielankündigung in die Höhe schossen. Wer nicht schnell genug war, musste tief in die Tasche greifen. Bis zu 575 € wurden für direkte Flugverbindungen bezahlt.
Die gängigsten Flüge waren nahezu vollständig in Essener Hand. Eurowings ergänzte das Flugangebot sogar extra. Die ersten Schlachtgesänge an Bord gab es am Dienstag um 11:40 Uhr in Düsseldorf, als der Pilot sich als gebürtiger Essener vorstellte und die RWE-Fans herzlich begrüßte. Die gute Stimmung drohte kurzzeitig zu kippen, als bereits kurz nach dem Start das Bier leer war. Die Reihen 7-23 gingen schon leer aus, so dass sich die durstigen Passagiere mit Longdrinks und Wein behelfen mussten. Die Landung wurde nicht wie üblich mit einem sanften Applaus gewürdigt, sondern von freudigen Gesängen begleitet: „Hurra, hurra, wir sind der Asimob aus Essen und wir sind wieder da!“
Auch die Hotelpreise schossen mit dem immensen Ansturm in die Höhe. Unsere Reisegruppe, bestehend aus fünf Hafensängern, nistete sich in einem Schlafsaal mit vier Betten ein, so dass das spartanische Interieur des Zimmers noch um eine Luftmatratze ergänzt werden musste. Der Preis für eine Übernachtung konnte so letztlich auf 6 € pro Kopf gedrückt werden, wofür in Edinburgh kaum ein Pint zu kriegen war.
Royal Mile & Grassmarket
Im Laufe des Tages füllten die Essener Botschafter zunächst sämtliche Pubs auf der Royal Mile und flanierten in der Sonne. Sunshine On Leith, so wie es in der Hymne der Hibs heißt, war in diesen Tagen Programm. Bestes Kaiserwetter ließ die ersten Bierchen ganz locker über die Theken gehen. Das Tennent’s, meistverkauftes Lagerbier in Schottland, ging gut runter. Zur Schaffung einer vernünftigen Grundlage wurden das schottische Nationalgericht Haggis und vertrautere Speisen vertilgt. Manche Ruhrpottschnauze hatte dabei noch Anlaufschwierigkeiten, sich an die sprachlichen Gegebenheiten vor Ort zu gewöhnen: „Hömma, wo bleibt denn unsere Pizza, junger Mann!?“, ließ den Kellner der The Filling Station nur ratlos aus der Wäsche schauen.
Als die Herrschaften am Nachbartisch noch immer auf die Pizza von dem jungen Mann warteten, konnten zwischenzeitlich zwei alte Freunde von Derby County begrüßt werden, zu denen bereits seit 13 Jahren eine Freundschaft gepflegt wird. Anlässlich des rot-weissen Feiertages hat sich einer der Kollegen noch in der Vorwoche schnell das RWE-Emblem auf den Unterarm tätowieren lassen. Definitiv eine Geste für die Ewigkeit.

Das Geschehen verlagerte sich dann immer mehr von der Royal Mile zum Grassmarket, wo für 19 Uhr ein Treffpunkt ausgerufen wurde. Was sich dort für ein spontanes Straßenfest abgespielt hat, lässt sich in Worten gar nicht ausdrücken. Das war nicht nur ein Hauch von Europapokal, sondern schon ein ausgewachsener Orkan.
Der gesamte Platz war von Essenern geflutet worden, die sich die Trockenlegung aller anliegenden Pubs zur Aufgabe gemacht hatten. Die magisch schallenden Fangesänge verzauberten nicht nur die unzähligen Touristen, die auf den Spuren von Harry Potter durch die Stadt tingelten. Gleich um die Ecke befindet sich die Victoria Street, die J. K. Rowling als Inspiration für die Winkelgasse diente.
Zum Orkan der Freude gesellte sich am Abend noch ein platzartiger Regenschauer, der sich schnell als Brandbeschleuniger für die bereits überschwappende Stimmung entpuppte. Der ganze RWE-Tross auf dem ehemaligen Marktplatz stürmte nun in die Pubs und ließ dort dicht gedrängt die Schwarte krachen. Wenn die durstigen Essener Kehlen nicht gerade selber einen Song zum Besten gaben, wurde zu Adiole und Wackelkontakt aus den Boxen gefeiert. Im Pub unserer Wahl, dem Biddy Mulligans, gab es zudem Livemusik. Ein Musiker mit Gitarre brachte mit diversen Evergreens und Fußballballaden, wie You’ll Never Walk Alone und Sunshine On Leith, die Massen in Wallung.
Fanmarsch zur Easter Road
Mittwoch. Ein neuer Tag, dieselben Bilder. Der Grassmarket war in diesen Tagen das rot-weisse Epizentrum der Stadt und sollte das auch am Spieltag bleiben. So erkannte auch die Essener Ultraszene, dass der Treffpunkt am Hunter Square für den Marsch nicht ideal war und verlegte diesen kurzerhand. Der Einmarsch über die Victoria Street mit einer Choreo, Kartons voll mit Mottoartikeln, palettenweise Dosenbier und diversen Schlachtgesängen im Gepäck machte einen ordentlichen Eindruck.

Das gesamte Schauspiel war ein surreales Erlebnis für die geschundenen RWE-Seelen, die 14 Jahre nach Lotte, Rödinghausen und Kaan-Marienborn gefahren sind. Wo bis 1784 noch Hinrichtungen stattfanden, wurde der oft zitierte „schlafende Riese“ mal wieder zum Leben erweckt. Der Grassmarket drohte im Laufe des Tages aus allen Nähten zu platzen. Die roten Doppeldecker, die im Minutentakt vorbeifuhren, fügten sich wunderbar in die vorherrschende Farbenpracht. Das historische Erbe des Platzes geriet auf der Stadtrundfahrt scheinbar völlig in den Hintergrund, da die Touristen an Deck plötzlich nur noch ein Fotomotiv vor der Linse haben wollten: Den einheitlich in Rot gekleideten Auswärtsmob im Partyrausch.
Gegen 16:30 Uhr bewegte sich die 2000 Mann starke Karawane in Bewegung und ließ die Gemäuer der altehrwürdigen Stadt einige Male in ihren Grundfesten erschüttern. Wie ein roter Strich schlängelten sich die reisefreudigen Essener durch die Häuserschluchten. Keine Brücke, an der Einheimische und Touristen nicht um die besten Plätze kämpften. Eine Baustelle entlang der Route kam völlig zum Erliegen, weil die Bauarbeiter um den besten Schnappschuss buhlten.

Rot-Weiss Essen war in diesen Momenten, in einer der schönsten Städte Europas, die Hauptattraktion. Niemand konnte sich den brachialen Gesängen entziehen. Ein grandioser Marsch, bei dem die roten Schottland-Fahnen und die weißen Schiebermützen doch sehr gut zur Geltung kamen. Mittendrin Oberbürgermeister Thomas Kufen im Anzug. Das Sakko lässig über die Schulter geworfen. Als sich eine Gasse bildet, um den nächsten Song in einem wilden Pogo enden zu lassen, verliert sich seine Spur. Auch die nicht nur stadtbekannten Freerunning Schlappen ließen es sich nicht nehmen, dem Spektakel beizuwohnen. Einige Schotten schlossen sich spontan an und liefen mit. Vermutlich mehr als Polizisten, die fast an zwei Händen abzuzählen waren und eigentlich nur den Verkehr regelten. Es passte einfach alles.
„Wie einst der Opa, mit dir durch Europa!“
Kurz vorm Stadion hingen fünf schottische Kids am Zaun, die sich über jeden einzelnen Aufkleber freuten. Auf dem Rückweg standen die Jungs an derselben Stelle und waren mit allerlei RWE-Klamotten behangen wie die Tannenbäume. Ein Sinnbild für den respektvollen Umgang miteinander. Anders als in der Heimat, verstanden sich der RWE-Anhang und die Grünen in Edinburgh überaus gut. Bei jeder Gelegenheit wurden gequatscht, ein Bierchen zusammen getrunken oder sogar das Trikot getauscht.
Die entspannte Situation vor Ort spiegelte sich auch in den Einlasskontrollen wider, die sich größtenteils auf das Scannen der Eintrittskarte beschränkten. Im Stadion machte der erfrischend freie Blick auf das Spielfeld zunächst allen Freunden der üppigen Zaunbeflaggung zu schaffen. So wurde aus den übriggebliebenen Fahnenstöcken, Panzerband und Kabelbindern nahezu über die gesamte Breite der Tribüne eine Behelfsvorrichtung konstruiert.

Rund 40 Zaunfahnen dürften letztlich ihren Weg ins Easter Road Stadium gefunden haben. Ein starkes Bild, das zum Anstoß von einer Choreographie der Ultras garniert wurde. Rote und weiße Folienstäbe, so wie die weitläufig als Pimmelballons bekannten Stilelemente eigentlich heißen, ließen den ausverkauften Unterrang der Hintertortribüne in den schönsten Farben der Welt erstrahlen. Ein paar Fackeln untermalten das Bild, das durch zwei Banner eingerahmt wurde. „Rot-Weiss Essen international“ prangte am Oberrang, während unten eine Zeile aus dem neuen, extra zur Schottland-Reise gedichteten Lied, zu lesen war: „Wie einst der Opa, mit dir durch Europa“. Dass der Spruch in den dunkelsten Ecken des Internets, im MSV-Forum, mit dem Krieg assoziiert wird, ist eine Frechheit gegenüber dem ersten deutschen Vertreter im Europapokal der Landesmeister.
„Ganz normaler Mittwoch!“
Während die Hibs auf dem Platz noch feierlich eine Tribüne der Easter Road nach Vereinslegende Pat Stanton benannten, wähnten sich die mitgereisten Essener immer noch in einem Traum. „Ganz normaler Mittwoch“ schallte es ungläubig und mit der nötigen Ironie tausendfach durch das Stadion bis ins Hafengebiet von Leith. Auch der schnelle 2:0-Rückstand konnte den Gästeanhang nicht bremsen, der allem voran in der 1. Halbzeit einen bombastischen Support leistete und immer wieder die Blicke und Kameras der schottischen Fans auf sich zog.

Irritationen gab es nach den ersten 45 Minuten unter den deutschen Zuschauern. Wer auf der heimischen Westtribüne mit dem höchsten Bier-pro-Kopf-Verbrauch in Deutschlands Stadien glänzen kann, zieht natürlich mit dem Halbzeitpfiff reflexartig zum Bierstand. Den gibt es allerdings schon seit 1981 nicht mehr im schottischen Fußball. „We want beer“ forderten die mit Stauder verwöhnten Essener nun lautstark. An Ort und Stelle half das zwar nicht mehr, die schottische Regierung verkündete aber immerhin am selben Tag noch, dass es ein Pilotprojekt geben solle, um das Alkoholverbot testweise aufzuheben. So darf der Zweitligist Ayr United in zwei ausgewählten Spielen bis zu 66 Fans mit bis zu fünf Pints versorgen. Vier vor dem Spiel und eins in der Halbzeit. Kein Scherz. Es blieb also bei Cola und kulinarischen Köstlichkeiten, wie dem Scottish Pie. In Deutschland könnte man den appetitlichen Schmierenfraß als Bratensoße im Blätterteig verkaufen. Schmeckte aber trotzdem nicht nur den Möwen, die hundertfach wie die Geier über dem Stadion kreisten.

Die zweite Halbzeit begann furios mit einem Doppelpack von Dominik Martinovic, der daraufhin lautstark gefeiert wurde. In kollektiver Hoffnung, ganz uneigennützig, dass der Knoten auch in den Meisterschaftsspielen bald platzen möge. Am Ende musste der deutsche Drittligist sich gegen den Dritten der Scottish Premiership mit 3:2 geschlagen geben, wobei Torben Müsel noch vom Punkt scheiterte.
Es tat der Stimmung keinen Abbruch. Versöhnliche Bilder auch nach Abpfiff. Auf den Videowänden wurde den mitgereisten Fans auf Deutsch gedankt. Die Spieler von Hibernian erschienen vor der Gästetribüne, um Respekt zu zollen und auch die Fans in Grün-Weiß verließen die Tribünen mit anerkennendem Applaus in Richtung der roten Wand. In den Kommentarspalten attestierten die Hibees in unbändiger Begeisterung den besten Gästeauftritt, den Edinburgh jemals gesehen hat.

Nach einem Erinnerungsfoto mit der eigenen Mannschaft ging es dann schiedlich-friedlich wieder in die unzähligen Pubs der Stadt.
Schotten dicht: Feierabend in Edinburgh
Zu keiner Zeit und an keinem Ort war es möglich einen Pub zu betreten, wo nicht schon ein paar Rote drinsaßen. Allem voran nicht auf dem 45-minütigen Fußweg von der Easter Road zum Grassmarket, wo sich das Schauspiel des Vorabends nochmal wiederholte. Zumindest bis zur selbst auferlegten Sperrstunde um 1 Uhr, zu der dann kein Bier mehr verkauft wird. So zog der grölende Tross dann zu fortgeschrittener Stunde in kleineren Gruppen weiter, um noch ein Tanzlokal mit Bierausschank zu finden. Als Hotspot der Essener wurde das Dropkick Murphys auserkoren, wo auf der Tanzfläche abermals die Vereinsfarben des glorreichen RWE herausstachen. Fans und Verantwortliche von Rot-Weiss Essen besetzten gemeinsam die Tresen, um auf das Erlebte anzustoßen. Endgültig gecrasht wurde die Party mit einer Essener Karaoke-Darbietung zu 180 Grad von Michael Wendler, die in einer deutsch-schottischen Polonaise mündete. Gefolgt vom Europapokallied – „Erste Runde Krankenschein, dann die Oma tot…“ – bevor um 3 Uhr auch hier die Schotten dichtgemacht wurden.
Am Tag nach dem Spiel stand nicht nur bei unserer Reisegruppe das Sightseeing auf dem Plan. Nach einem eher dürftigen Frühstück, das können die Engländer dann doch besser, bahnte sich eine Vielzahl an Essenern in der prallen Sonne den Weg hoch hinauf zu Arthur‘s Seat. Der steile Wanderweg glich einer rot-weissen Ameisenstraße. Am Gipfel mit seinen markanten Felsformationen angekommen, wurden alle Anstrengungen mit einer grandiosen Aussicht auf Edinburgh, das Meer und ganz besonders auf den Ort des gestrigen Geschehens, das Easter Road Stadium, entschädigt.
Andere zog es zum Portobello Beach, auf den Calton Hill oder zu anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Während ein Großteil der RWE-Fans im Laufe des Tages abreiste, machten die verbliebenen Essener die Nacht noch ein weiteres Mal zum Tag, bevor Edinburgh endlich wieder zur Ruhe kommen konnte. Fortan werden nur noch die abertausenden Aufkleber in der Stadt den Besuch von 2.200 Essenern dokumentieren.
Für die Mitgereisten hingegen bleiben Erinnerungen für die Ewigkeit. An eine einmalige Reise, mit der für viele Menschen ein Traum in Erfüllung gegangen ist. Es dürften die besten Erlebnisse gewesen sein, die in den letzten 30 Jahren auswärts mit Rot-Weiss Essen zu erleben waren.
Nur der RWE!
Basti Hattermann