Während der Länderspielpause hat Rot-Weiss Essen vor dem Match bei Jahn Regensburg am 12.09 so einiges aufzuarbeiten. Sehr tief sitzt der Frust über den Katastrophenauftritt im Westduell gegen Alemannia Aachen. Doch nicht nur dieses Spiel offenbarte Handlungs- und Redebedarf hinter den Kulissen bei RWE. Trainer Uwe Koschinat ist dabei als Baumeister gefordert. Und das auch, weil Uwe sich so manche völlig unnötige Baustelle selber geschaffen hat. Jawattdenn.de wirft einen kritischen Blick auf die ersten Wochen der neuen Saison.
Baustelle 1: Die Systemfrage
Bereits in der Vorsaison war gleich unter zwei Trainern die große Frage, ob sich die Mannschaft mit der Vierer- oder der Fünferkette wohler fühlt. Die Antwort darauf war irgendwann klar, im System der Fünferkette gewann RWE immer mehr an Stabilität und sogar mehr, wovon der zweitbeste Rückrundenplatz Zeugnis ablegte. So begann Essen, Ausnahme das Match im Niederrheinpokal gegen ein tieferklassiges Team, auch in dieser Saison alle fünf seiner Pflichtspiele in der Liga und im DFB-Pokal in diesem System, doch nunmehr stottert der Motor gewaltig. Wo liegen die Gründe dafür, dass das, was gestern noch top schien, heute suboptimal ist?
Essens Gegner riechen den Braten jetzt. Nach der katastrophalen Vorrunde 24/25 galt Essen in der Rückrunde in vielen Partien als Underdog. RWE konnte den eigentlich propagierten Ballbesitzfußball aufgeben und viele Gegner machen lassen. Aus einer starken Kompaktheit heraus schaltete Rot-Weiss nach Möglichkeit perfekt und schnell um und nutzte die Räume, die die Gegner gaben. Diese verteidigten gegen Essen manchmal sogar völlig naiv und den Turbospieler Ramien Safi bei eigenen Standards häufig sogar Mann gegen Mann. Da fühlte RWE sich wohl.
Nun läuft es anders. In drei der fünf Spiele fiel Essen die Fünferkette auf die Füße. Sehr gut funktionierte sie nur im DFB-Pokal gegen die Premiumqualität des BVB, man verlor am Ende eher unglücklich als verdient. Auch beim Auftaktremis gegen 1860 gelang es defensiv sehr gut, den starken Löwensturm lange Zeit zu bändigen. Gegen Ende des Matches aber dominierte RWE darüber hinaus sehr deutlich und bereits hier fragte man sich, ob man nicht das System nun offensiver aufstellen könnte? Vollends daneben ging es in Havelse und gegen Aachen. Aus jeweils unterschiedlichen Gründen.
115 Drittligaspiele hatte Rot-Weiss Essen auf dem Buckel, bevor es zum TSV Havelse gereist war. 115 Spiele, von denen viele auf Augenhöhe verliefen, in einigen RWE unterlegen oder überlegen war. Eines hatten jedoch alle Partien gemeinsam, ein reines Verhindern von Fußball strebte keiner der Essener Gegner an, ebenso wenig RWE selbst, was vor allem in der Premierensaison 22/23 zu einigen naiven Auftritten und herben Abreibungen führte.
Das Match im Eileriedstadion von Hannover war eine kleine Zeitenwende. Die Essener Anhänger auf den Tribünen und das Team auf dem Rasen fühlten sich in die Regionalliga West zurückversetzt. Dort hatten viele Gegner ihr Heil gegen den Favoriten RWE häufig nur in der Defensive gesucht. Essen spielte über 80 Minuten lang wie im Handball um die gegnerische Box herum und suchte die Lücke. Wofür man hier drei Innenverteidiger benötigte, war Uwe Koschinats Geheimnis. Erst nach 82 Minuten änderte der Trainer das System und brachte zusätzliche Offensivpower auf Kosten eines defensiv quasi arbeitslosen Verteidigers. RWE strahlte sofort mehr Gefahr aus und machte auch noch das so ersehnte Führungstor. Dass man sich den Sieg dennoch wieder nehmen ließ, war keine Folge der Viererkette, sondern individuellen Fehlentscheidungen der Spieler geschuldet.
Gegen Alemannia Aachen ging die Fünferkette aus ganz anderen Gründen schief. Die Aachener stellten die Essener komplett zu und pressten aggressiv. Was auch dadurch besser gelang, weil Essen sich selbst das defensive Zentrum voll stellte und risikoreiche Kurzpässe spielte, während vorne ein Spieler fehlte, der die Aachener tiefer hätte binden können. Besonders in der ersten Hälfte gab es so viele Ballverluste in gefährlichen Räumen, dass das 0:2 zur Pause glücklich aus Essener Sicht ausfiel. Später wurde in einem Leitmedium gefragt, warum Essen das von Koschinat unter gegnerischem Druck eigentlich nicht gewollte kurze Aufbauspiel pflegte und es wurde sogar angedeutet, womöglich habe die Mannschaft ihr eigenes Ding über den Kopf des Trainers hinweg gemacht. Bei genauerem Hinschauen war es wohl eher die Ratlosigkeit der Mannen von der Hafenstraße, die schon im zweiten Drittel keine Anspielstationen fanden und auch kein Langholz ins Nichts spielen wollten. So präsentierte man sich und den Ball der Alemannia auf dem Silberteller und wirkte dabei phasenweise paralysiert.
In Hälfte Zwei ging Essen deutlich höheres und später volles Risiko. Mit der Viererkette und ohne Doppelsechs, aber quasi mit Doppelzehn fand man vorne besser statt, entblößte aber auch seine Defensive für zahlreiche Gegenstöße. Erst recht, als nach einer Stunde sogar zwei Strafraumstürmer spielten. Am Ende hätte die Partie auch 4:6 ausgehen können. So konnte der letztliche Beweis, dass die Viererkette die bessere Variante ist, nicht vollends erbracht werden, aber auch nur, weil RWE seine Abwehr in dieser Systemvariante nicht beschützte, sondern volles Risiko gehen musste. In den letzten Minuten zeigte sich, dass RWE noch Körner hatte, während Aachen kaum noch laufen konnte. Schade, dass man das Spiel nicht besonnener angelegt hatte.
Auch das Intermezzo in Wiesbaden zeigte zwei verschiedene RWE-Gesichter, aber eigentlich auch eindeutige Hinweise darauf, in welcher Formation dieser Kader sich wohler fühlt. Genau wie das Spiel wogte auch die rot-weisse Formation hin und her. Essen begann dort wieder mit der Fünferkette und wieder spielte man eine schwache erste Hälfte, der 0:1 Rückstand hätte höher ausfallen können. Koschinat reagierte zur Halbzeit und stellte nun auf Viererkette um. Eine Maßnahme, die fruchtete. RWE spielte eine wahnsinnig gute halbe Stunde und drehte die Partie auf 3:1. Dennoch stellte Koschinat nach 75 Minuten zurück auf Fünferkette. Unmittelbar nach Wiesbadens Anschlusstreffer zum 2:3 nahm er Ramien Safi vom Feld und verstärkte die Abwehrkette durch den etatmäßigen Kapitän Michael Schultz.
Nun geriet RWE so unter Druck, dass man kurz vor dem regulären Ende das 3:3 schluckte. Der Trainer wechselte zwar in der Nachspielzeit den Sieg ein, brachte Owusu (Vorbereiter) und Müsel (Siegtorschütze in Minute 90 + 4) und kam mit einem blauen Auge davon, zog aber leider nicht die richtigen Schlüsse für das dann folgende Match gegen Aachen. Aus der System- resultiert auch die Personalfrage und die zu verändernde Mentalität, mit der RWE seine Spiele anzugehen hätte.
Baustelle 2: Die Personal- und Mentalitätsfrage – oder wie rede ich nicht um den heißen Brei herum…
Keine Frage, Uwe Koschinat formte in der Rückrunde aus einem Abstiegskandidaten ein Team, das Vorfreude auf die neue Saison schüren konnte. Doch nun scheint die Leichtigkeit dahin. Obwohl RWE seinen Kader für die Spielzeit 2025/26 vor allem offensiv deutlich verstärkt hat. Mit Marek Janssen, Jaka Cuber Potocnik und jüngst Jannik Mause hat Essen nun die Neunerposition gleich dreifach besetzt. Rückkehrer Marvin Obuz soll erneut der spielstarke Flügelstürmer und Vorbereiter sein wie in der Saison 2023/24. Ahmet Arslan, Ramien Safi und Kaito Mizuta sind an der Hafenstraße geblieben, sodass RWE auf dem Papier eine Parade-Offensive besitzt. Umso fragwürdiger ist es, sich mittels einer Fünferkette bereits systemisch eine dieser Offensiv-Optionen zu nehmen. Zumal Essen nun ganz anders in der Liga wahrgenommen wird.
RWE muss Mittel und Wege finden sein Spiel gestalten zu können. Das erfordert mehr Mut und eine offensive Grundausrichtung. Bislang regiert bei Trainer Koschinat jedoch eher die Devise, Vorsicht sei die Mutter der Porzellankiste, da er sein Team so auf- und einstellt wie in der letzten Spielzeit, als Essen alle diese personellen Möglichkeiten allerdings noch gar nicht besessen hat. Hier sei die These aufgestellt, dass Alemannia Aachen RWE niemals so hätte überrennen können, wenn die Essener den Gästen mehr Offensivgeist entgegengeworfen und sich nicht hinten hätten binden lassen hätten. Daher muss sich auch die Mentalität ändern.
Vor allem weil für Coach Koschinat die Mannschaftsführung deutlich schwieriger geworden ist als letzte Saison, als sich das Team lange Zeit quasi von selbst aufgestellt hatte. Woche für Woche sind nun unangenehme Entscheidungen zu treffen, die Koschi jedoch hin und wieder zu vermeiden scheint. So wäre für den erneut zum Kapitän ernannten Michael Schultz das System der Viererkette das Ende seiner Startelfauftritte, denn sportlich haben Rios Alonso und Tobias Kraulich die Nase vorn. Zögert Koschinat auch deshalb die Systemumstellung hinaus, um Ärger mit einem Platzhirsch zu vermeiden?
Den möchte Koschi wohl auch mit Ahmet Arslan aus dem Weg gehen, den er lieber phasenweise auf die für Ahmo ungeliebte Neun beordert, anstatt ihn früher für einen echten Stürmer vom Feld zu holen, wie in Havelse gesehen. Gegen Aachen wiederum standen dem Coach gleich drei gelernte Neuner zur Verfügung, zentral rieb sich aber der kleine Ramien Safi eine Stunde lang vorne auf. Konnte Koschinat in der Vorsaison schier alles anstellen und es gelang, man siehe z.B. den Torwartwechsel von Jakob Golz zu Felix Wienand, so ist ihm derzeit ein weniger glückliches Händchen beschert.
Dazu gehören auch die Team- und Spieleransprachen. Koschi liebt den ausführlichen Monolog, das wissen alle, die seine Pressekonferenzen verfolgen. Was im klaren Kontrast zu Vorgänger Christoph Dabrowski zunächst sehr unterhaltsam wirkte, kommt nun aber an seine Grenzen. In der Öffentlichkeit überhäuft Koschinat seine Spieler förmlich mit Wertschätzung. Die wird aber irgendwann als phrasenhaft entlarvt, wenn dann keine Taten folgen. Als Beispiel kann da der Fall Gianluca Swajkowski dienen. Den lobte Koschi vor der Saison über den grünen Klee und sah den vielversprechenden Youngster auf Augenhöhe mit Essens Strukturgeber und Aggressive Leader Klaus Gjasula. In der Realität stand Swajkowski jedoch noch keine Sekunde in der Liga auf dem Feld.
Sehr kritisch sehen viele RWE-Fans auch den Abgang von Dominik Martinovic. Obwohl Martinovic eine bärenstarke Vorbereitung spielte, fand er sich zum Saisonstart nur auf der Bank wieder. Das war für den ehrgeizigen Angreifer ein Nackenschlag. Sein letzter Auftritt im RWE-Trikot fand im Niederrheinpokal gegen das deutlich tieferklassige Solingen statt. Im Kader zum Spiel gegen Alemannia Aachen fehlte Martinovic, weil Koschinat offenbar auf eine weitere Zusammenarbeit keinen Wert mehr gelegt hat. Obwohl es öffentlich immer anders kommuniziert oder besser verklausuliert wird, erhalten nicht alle RWE-Spieler dieselbe Sorgfalt im Umgang mit ihnen. Der Eindruck, der Trainer rede mehr um den heißen Brei herum, als den notwendigen Klartext zu sprechen und alle Akteure gleichermaßen in die Pflicht zu nehmen, verfestigt sich so leider.
Die Zeichen der Zeit wahrnehmen
Es beginnen nun spannende Wochen für Rot-Weiss Essen. Die Mannschaft kann weitaus mehr als zuletzt gesehen. Der Cheftrainer ist nun gefordert, das Ruder entschlossen in die Hand zu nehmen und in die richtige Position zu befördern. Nahezu alle RWE-Fans wünschen sich mehr Kontinuität auf dem Trainerstuhl und es wäre überzogen, nach wenigen Wochen Uwe Koschinat, für viele Anhänger in der letzten Saison fast ein Messias, bereits ganz grundsätzlich in Frage zu stellen. Jedoch müssen die Zeichen der Zeit wahrgenommen werden. Aus dem Abstiegskandidaten soll nun ein Aufstiegsanwärter werden. Die Erfolgsrezepte von gestern wirken daher heute nicht mehr. Sie bedürfen einer grundsätzlichen Neuausrichtung.
Uwe Koschinat spielte mit RWE im Vorjahr nicht nur eine sensationell gute Rückrunde mit einem sehr starken Punkteschnitt, sondern schenkte den Fans auch den Niederrhein-Pokalsieg beim Prestige-Duell in Duisburg. Er hat somit mehr als gezeigt, dass es geht. Er selbst spricht offen über einen notwendigen Prozess, den die Mannschaft, aber auch er selbst nun zu durchlaufen habe. Zeit ist wahrlich noch genug in dieser so engen und manchmal verrückten Liga, in der man schnell viel Boden gutmachen kann. Gelingt dies, ist alles in rot-weisser Butter. Daran wird und muss sich auch Uwe Koschinat messen lassen.
NUR DER RWE!
Sven Meyering