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WM 1970 Halbfinale Deutschland – Italien

Das wahre Jahrhundertspiel – oder: „Ausgerechnet Schnellinger!“

Der Coupe Jules Rimet war die ursprüngliche Trophäe der Fußball Weltmeisterschaften, die als Wanderpokal von Turnier zu Turnier weitergereicht werden sollte. Erstmals 1970 standen ausschließlich ehemalige Weltmeister im Halbfinale. Uruguay, Brasilien und Italien waren bereits zweimal Weltmeister. Deutschland gelang der große Wurf erst einmal. Nur ein Sieg Deutschlands im Halbfinale und im darauf folgenden Endspiel hätte verhindern können, dass der Coupe endgültig in den Besitz eines der anderen Nationalverbände gelangte. Denn, wer die WM zum dritten Mal gewann, durfte den Pokal endgültig behalten.

Es sollte nicht so kommen. „Ausgerechnet Schnellinger“ – so der Fernsehkommentator – gab in der Nachspielzeit der regulären Spielzeit einem möglichen deutschen Erfolg neue Hoffnung. Aber letztlich blieben die Italiener in einer an Dramatik nicht zu überbietenden Partie siegreich und zogen ins Finale gegen Brasilien ein.

WM 1970 Deutschland – Italien

Das Halbfinale:

WM 1970 in Mexiko

17.06.1970, 16:00 Uhr (Ortszeit), in Mexico City, Aztekenstadion(102.444 Zuschauer)

Schiedsrichter: Arturo Yamasaki (Peru)

Deutschland – Italien34 n.V. (10; 1-1)

Aufstellung:

Deutschland:

Sepp Maier – Berti Vogts, Karl-Heinz Schnellinger, Willi Schulz, Bernd Patzke (66. Sigfried Held) – Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath – Jürgen Grabowski, Gerd Müller, Hannes Löhr (52. Stan Libuda)

Trainer: Helmut Schön)

Italien:

Enrico Albertosi – Tarcisio Burgnich, Pierluigi Cera, Roberto Rosato (91. Fabrizio Poletti), Giacinto Facchetti – Mario Bertini, Sandro Mazzola (46. Gianni Rivera), Giancarlo De Sisti – Angelo Domenghini, Roberto Boninsegna, Luigi Riva

Trainer: Ferruccio Valcareggi

Die Tore:

0-1 Roberto Boninsegna (8.) (Luigi Riva), 1-1 Karl-Heinz Schnellinger (90.) (Jürgen Grabowski), 2-1 Gerd Müller (94.), 2-2 Tarcisio Burgnich 98.), 2-3 Luigi Riva (104.) (Angelo Domenghini), 3-3 Gerd Müller (110.) (Uwe Seeler); 3-4 Gianni Riviera (111.) (Roberto Boninsegna)

Ausgangslage:

Die mentale Ausgangslage für die Deutsche Elf ähnelt der im vorausgegangenen Viertelfinalspiel gegen England. Die bisherige Länderspielgeschichte gegen Italien wies bis vor dem Halbfinale eine Bilanz von zwei deutschen Siegen, drei Unentschieden und acht Niederlagen aus. Bei WM-Turnieren konnte Italien noch nie besiegt werden (übrigens bis heute nicht). Wie sollte dieses Abwehrbollwerk bezwungen werden?

Es wurde zwar vier Stunden später als noch drei Tage zuvor im Viertelfinale angepfiffen – nachmittags um 16.00 Uhr – aber die Bedingungen waren nicht besser. Erneut war es am Spieltag sehr heiß. Außerdem lag das Aztekenstadion in Mexiko City 2200 Meter über dem Meeresspiegel. Die Luft war dünner, als es beide Mannschaften gewohnt waren. Die Techniker waren gefragt. Bälle bei Weitschüssen, Pässen, Flanken punktgenau an den gewünschten Ort zu bringen, erforderte Ballgefühl. Flogen die Bälle doch in der dünnen Luft erheblich weiter als geplant.

Jedoch waren die Bedingungen für beide Mannschaften gleich. Wenn ansonsten phrasenhaftes Gerede vom „Heimvorteil“ wirklich eine Berechtigung hat, dann in Mexiko, und zwar nur für die Mexikaner. Hitze und Höhe, waren alleine sie gewohnt. Eventuell noch die Bolivianer, aber die waren bei dieser Meisterschaft nicht dabei.

Italienische Mannschaften sind als Minimalisten bekannt – jedenfalls in der damaligen Zeit. Waren sie doch mit nur einem Tor gegen Schweden und zwei torlosen Remis mit 4-2 Punkten durch die Gruppenphase gekommen. Im Viertelfinale gelang zwar ein deutlicher 4-1 Sieg gegen Mexiko, der aber nicht wirklich aussagekräftig für die Spielstärke eingeschätzt wurde. Die wahre Stärke der Italiener kam erst im Halbfinale zur Geltung.

Personal und taktische Aufstellung:

Deutschlands startete mit einer 4-3-3 Aufstellung und spielte mit einem Libero in der Abwehr.

Die Blockbildung späterer Jahre gab es noch nicht. Extrem war es ja als eine Nationalelf nur mit Spielern aus Gladbach und vom FC Bayern besetzt war. In Mexiko war die Bundesliga noch etwas bunter vertreten. Die Bayern stellten den Torwart, den Libero und den Mittelstürmer (Maier, Beckenbauer, Müller). Der HSV war in der Abwehr und im offensiven Mittelfeld vertreten (Schulz, Seeler), der 1. FC Köln im Mittelfeld und im Angriff (Overath, Löhr). Hinzu kamen Vogts (Gladbach), Patzke (Hertha), Grabowski (Frankfurt) und Schnellinger (AC Mailand). Über die letzte Personalie wird noch zu reden sein. Durch Auswechslungen kam das Ruhrgebiet zum Zug – der Gelsenkirchener Stan Libuda ersetzte in der 53. Minute Hannes Löhr und Sigi Held vom BVB kam in der 63. Minute für den Berliner Patzke.

In früheren Jahren bedeutete der Gang eines Spielers in Ausland das Ende der Karriere als Nationalspieler. Sepp Herberger wollte seine Spieler in Deutschland haben. Schon 1966 war das wieder gelockert mit Helmut Haller vom AC Bologna. In Mexiko spielte Karl-Heinz Schnellinger mit, der beim AC Mailand sein Brot verdiente.

Auch die Italiener hatten einen Libero vor der Abwehrkette, spielten aber mit einem 4-4-2, wobei das Mittelfeld in einer Raute gestaffelt war. Die Italiener verfügten über eine eindeutigere Blockbildung. Die meisten Spieler kamen aus Cagliari oder von Inter Mailand. Der AC Mailand und Florenz waren noch vereinzelt vertreten.

Spielverlauf:

Bereits in der 8. Minute passierte, was sich keine Mannschaft in einem Spiel gegen Italien wünscht. Die Azzurri gingen früh in Führung. Boninsegna wollte im zentralen Mittelfeld den Ball auf einen links postierten Mitspieler leiten, von dem sprang der Ball aber wieder ab, traf noch einen Deutschen und fiel Boninsegna vor die Füße, der ihn mit einem Fernschuss an allen im Strafraum postierten Spielern vorbei ins Tor trat. Rückstand! So früh! Da rühren Italiener (jedenfalls damals) in der Regel Beton an und versuchen das Ergebnis über die Zeit zu bringen.

Heute hätte Fabrice Nühlen von Reviersport zwei Minuten später den Standardsatz eines Livetickers rausgehauen: „Noch 80 Minuten! Passiert hier noch was?“ – vermeintlich Recht habend, denn 80 Minuten passierte, was das Tore schießen betraf, nichts mehr. Es war in der Nachspielzeit, als Schnellinger zum Ausgleich traf. In der Realität passierte aber noch sehr viel. Ein intensiv geführtes Spiel, mit zahlreichen Zweikämpfen, genialen Spielzügen, Torraumszenen und gefährlichen Schüssen aufs Tor auf beiden Seiten trieb den Pulsschlag jedes Betrachters in ungesunde Höhen.

Beckenbauer wurde von Facchetti im Strafraum gefoult. Das blieb ungeahndet. Ein Schuss von Müller wurde von Torhüter Albertosi mit einer Glanzparade zur Ecke abgewehrt. Überhaupt war Albertosi mit seinen Abwehrparaden an diesem Tag der stärkste Spieler des italienischen Spiels. Unbezwingbar der Mann! Erneut wehrte er einen scharfen Schuss aus dem Mittelfeld von Grabowski ab. Die Pausenführung der Italiener war zu diesem Zeitpunkt sehr glücklich.

Nach dem Wiederanpfiff war Sepp Maier zur Stelle, als er den Kopfball des freistehenden Riva entschärfte. Anschließend knallte Overath den Ball an die Latte des italienischen Gehäuses. In dieser Phase führten die Deutschen einen Angriff nach dem anderen auf das gegnerische Tor. Beckenbauer wurde ein zweites Mal – diesmal an der Strafraumgrenze – gefoult. Unstrittig. Aber der peruanische Schiedsrichter sah den Tatort außerhalb. Den fälligen Freistoß schlug Deutschland in die Mauer. Der Ball konnte aber nicht entschieden genug abgewehrt werden. Albertosi traf mit seinem Abschlag Grabowski. Der Ball kullerte aufs Tor zu. Albertosi spitzelte ihn von der Torlinie zurück ins Spielfeld. Der heranstürmende Müller konnte ihn nicht mehr verwerten.

Franz Beckenbauer verletzte sich bei diesem Foul an der Schulter und musste einschließlich Verlängerung noch 60 Minuten mit dem Arm in der Schlinge weiterspielen. In der Verlängerung wurde der Arm dann am Körper fixiert.

90 Minuten waren gespielt. Trainer Helmut Schön gab dem Sportinformationsdienst bereits ein abschließendes Interview. Er hätte beherzigen sollen, dass Schluss erst ist, wenn Schluss ist. Aber noch einmal konnte Jürgen Grabowski von der linken Seitenauslinie flanken. Schnellinger sprang mit beiden Beinen voran in die Flanke hinein und konnte mit dem rechten Fuß den Ball ins Tor spitzeln. Das ist der Moment, in welchem Reporter Ernst Huberti legendär ausrief: „Unglaublich. Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen, ausgerechnet Schnellinger. Es ist nicht zu glauben.“ Torpfiff und Schlusspfiff der regulären Spielzeit waren identisch.

Aber jetzt ging das Drama erst los – und zwar im vier Minuten Takt. 94. Minute: Ecke von rechts. Seeler köpft den Ball vors Tor. Dort stürmt Müller heran, tritt kurz auf den Ball, der gaaaanz langsam aufs Tor zurollt. Albertosi kriecht auf allen Vieren hinter dem Ball her, kann ihn aber nicht mehr erreichen. Zeitlupe war nicht nötig – diese Szene selbst lief schon im Zeitlupenmodus.

Vier Minuten später (98.): Ein Freistoß in den deutschen Strafraum prallt von Sigi Held ab. Verteidiger Burgnich musste nur noch einschießen.

Jetzt dauerte es sechs Minuten (104.): Italien kontert, Rosato flankt und Riva versenkt den Ball im Netz. Jetzt führte wieder Italien.

Erneut sechs Minuten (110.): Inzwischen war die zweite Halbzeit der Verlängerung angepfiffen. Flanke nach Eckball von rechts, Seeler köpft stark auf Müller, der den Ball an Albertosi vorbei mit dem Kopf ins Tor drückt.

Und jetzt – eine Minute später (111.): Anstoß nach dem Ausgleich – Facchetti treibt den Ball vom Mittelkreis nach vorne. Dort nimmt Boninsegna auf und dribbelt in den Strafraum hinein, spielt zurück auf den zentral stehen Rivera, der den Siegtreffer erzielt. 

Dass es auch danach noch weitere brisante Szenen gab, sei nur noch am Rande erwähnt.

Pressestimmen:

Les Sports (Belgien):„Wie ist es möglich, dass Menschen derartige Energien haben, um in dieser Art und Weise ein so langes Spiel durchzuhalten?“

Evening News (England):„Der Fußball kann wieder erhobenen Hauptes einhergehen. Das Spiel kann vom Finale nicht übertroffen werden.“

Bild:„Der Beifall prasselte auf 22 Spieler nieder wie ein Regenguss. Wir dürfen unserer Mannschaft gratulieren, denn sie hat nicht verloren, auch wenn es das Ergebnis so will.“

Knackpunkte:

Franz Beckenbauer verletzte sich in der 60. Spielminute an der Schulter. Ein Schlüsselbeinbruch schränkte ihn arg ein. Sein rechter Arm wurde am Körper fixiert. Dennoch spielte er weiter, deutlich gehemmt, aber ohne in seinem Engagement nachzulassen. Er war weiterhin der Motor im Mittelfeld, jedoch fehlte ihm der letzte Biss.

Aufreger:

Die Deutsche Presse schoss sich nach dem Spiel wochenlang auf den peruanischen Schiedsrichter ein. Dreimal verweigerte er der deutschen Mannschaft einen Elfmeter. In der ersten Halbzeit wurde Beckenbauer im Strafraum gefoult. Arturo Yamasaki schätzte die Szene nicht als elfmeterwürdiges Foul ein und ließ weiterspielen.

In der zweiten Hälfte wurde Kaiser Franz erneut gefoult, dieses Mal nicht mitten im Strafraum. Heute hätte ein VAR zur Beurteilung lange Zeit gebraucht, bis ein Videobeweis erbracht wäre. Die Bewertung als Foul war unstrittig. Schiedsrichter Yamasaki verlegte den Ort aber unmittelbar vor die Strafraumlinie. Der nachfolgende Freistoß wurde von der italienischen Abwehrkette abgefangen.

Ein weiteres Foul an Uwe Seeler wurde nicht mit Elfmeter geahndet. Und es gab noch einige Nickeligkeiten der Italiener, die der Peruaner geflissentlich übersah.

Fazit und Blick über den Tellerrand:

Ausnahmsweise geben wir der BILD Zeitung einmal Recht: Deutschland hat nicht verloren, auch wenn es das Ergebnis so will. Trotz der Niederlage wird auch in Deutschland heute noch dieses Spiel als „Jahrhundertspiel“ gesehen. Zurecht – aufgrund des hohen Einsatzes beider Mannschaften, hochklassiger Spielszenen im Mittelfeld und in den Strafräumen, ständig wechselnder Spielanteile und nicht zuletzt wegen der Dramatik in der Verlängerung, die beide Mannschaften mal in Führung brachte. Jeder Regisseur, Dramaturg oder Choreograph würde es sehr schwer haben, dies alles noch einmal zu toppen.

50 der größten Fußballer aller Zeiten wählten im Jahr 2000 dieses Spiel einstimmig !!! zu dem, was es schon mit dem Abpfiff war – zum Jahrhundertspiel.

Italien investierte viel. Das kostete Kraft, zu viel Kraft. Den überaus starken Brasilianern konnten sie im Finale nicht mehr viel entgegen setzten. Brasilien gewann das Turnier hochverdient mit 4-1 (1-1).

Deutschland war im ungeliebten Finale um den dritten Platz erfolgreicher. Uruguay wurde durch einen Treffer von Wolfgang Overath 1-0 besiegt. Kaiser Franz spielte nicht mehr mit. Er musste seine Schulter auskurieren.

Gerd Müller schoss im Spiel gegen Italien seine Tore Nr. 9 und 10. Das machte ihn zum Torschützenkönig vor dem Brasilianer Jairzinho, der es auf sieben Treffer brachte.

Als Vertreter Mittelamerikas neben dem Gastgeber Mexiko qualifizierte sich El Salvador. Nach einem Qualifikationsspiel in Honduras brach 1969 ein Krieg zwischen beiden Ländern aus. Das Spiel war wohl Anlass, aber nicht Grund für den Konflikt, der in sozialen Konflikten zwischen der honduranischen Bevölkerung und der salvadorianischen Minderheit in Honduras zu suchen ist. Nach sechs Tagen kam es im Juli ’69 zum Waffenstillstand, zum Friedensschluss aber erst 1980.

Blick zurück aus der Gegenwart:

Viele sprechen von der besten WM aller Zeiten. Natürlich waren alle Organisation und der Spielplan noch nicht so streng durchgetaktet, wie in moderner Zeit. Das wurde aber von anderen Faktoren aufgefangen: Die Herzlichkeit der Mexikaner und ihrer Gastfreundschaft. Sie konnten sich trotz Enttäuschung über das eigene Ausscheiden anfeuernd auf die Seite anderer Teams schlagen. Die räumliche Dichte des Turniers – die 32 Partien wurden in nur fünf Stadien absolviert. Die Atmosphäre des Aztekenstadions*, das weit über 100.000 Zuschauer fasste und immer Bombenstimmung garantierte. Die sportlich starken Auftritte der 16 beteiligten Mannschaften. Und nicht zuletzt das starke Auftreten der Brasilianer.

* Erneut Schauplatz eines WM Finales war das Aztekenstadion 1986. Mexiko war kurzfristig für die USA als Ausrichter eingesprungen, welche die Organisation eines Fußballturniers nicht gebacken kriegten. In diesem Finale unterlag Deutschland den Argentiniern mit 2-3.

Vier Weltmeisterteams im Halbfinale unter sich. Letztlich trug Brasilien den Coupe Jules Rimet für immer davon. Ein neuer Pokal wurde entworfen und bei der WM 1974 in Deutschland erstmals überreicht. Leider gilt die Regel nicht mehr, dass der Pokal beim dritten WM Titel dauerhaft in die Hände des Siegers übergeht. 2014 hätte Deutschland ihn bekommen.

Ja, Deutschland war unterlegen. Aber die Entwicklung zum bis heute zweitbesten WM-Teilnehmer war mit den Turnieren 1966 und 1970 eingeläutet. Es folgten drei WM-Titel ( 1974 Niederlande, 1990 Argentinien und 2014 Argentinien). Dreimal war es die Vizeweltmeisterschaft (1982 gegen Italien, 1986 gegen Argentinien und 2002 gegen Brasilien). Und noch zweimal landete Deutschland auf dem dritten Platz.