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2019/2020 - Regionalliga West

Rot-Weiss Essen – SC Verl (1:4)

Es musste mal so kommen, es musste mal gescheh’n. Im Spitzenspiel an der Hafenstraße brachte der SC Verl den Rot-Weissen die erste Saisonniederlage bei. Mit 1:4 fiel diese allerdings ein wenig zu hoch aus, zumal zwei Tore Geschenke der Essener Hintermannschaft waren. Am Donnerstag geht es gegen Gladbach II direkt weiter, also keine Zeit zum Trübsal blasen.

Vorbericht

Verrückte Tabellensituation vor dem Spitzenspiel an der Hafenstraße zwischen Rot-Weiss Essen und dem SC Verl. Obwohl die Gastgeber 7 ihrer 8 Spiele gewannen und zudem als einziges Team der Liga noch ungeschlagen sind, empfangen sie nicht als Spitzenreiter, sondern nur als Tabellendritter den Zweiten SC Verl.

Das liegt zum einen an der formidablen Doppelkonkurrenz aus Ostwestfalen, denn nicht nur Verl ist besonders gut drauf, sondern auch der ohnehin als Ligafavorit gestartete SV Rödinghausen. Zum anderen an der krummen Spieltagsplanung. Bei einer 19er Liga muss ohnehin immer einer passen, RWE war bereits in der Meisterschaft spielfrei. Zudem wurde unter der Woche das Spiel bei den Amateuren aus Gelsenkirchen verlegt, da der Verband Sicherheitsrisiken witterte, die Konkurrenz durfte ran und vorlegen.

Da Essen erst Sonntag spielt, hat der SVR nach seinem samstäglichen Einsatz bei den Amateuren des FC Kölle satte drei Spiele mehr auf dem Konto! Was im Siegesfall der Wiehengebirgler dazu führen würde, dass RWE mit 6 Punkten hinter Rödinghausen in die Partie gegen das derzeit punktgleiche Verl ginge, das wiederum eine Partie mehr ausgetragen hat als die Essener. Da baut sich trotz der großartigen Form der Titz-Schützlinge ein gewisser Druck auf RWE auf, auch wenn man der panischen Versuchung widerstehen muss, ein Spiel im ersten Saisonviertel tabellarisch überzubewerten. Beruhigung verspricht andererseits eine andere Statistik. Was den derzeit erreichten Punkteschnitt anbelangt stehen die Roten mit 2,75 Punkten vor Rödinghausen, das selbst bei einem potenziellem Sieg in Köln „nur“ 2,54 Zähler verbuchen könnte und aktuell den Wert 2,50 aufweist, Verl kommt in dieser Statistik auf 2,44 Punkte. Dieses Trio hat sich dank dieser Bilanzen bereits ein Stück vom Rest der Liga abgesetzt. Daher ist die Stimmungslage nicht nur im großstädtischen Essen euphorisch, sondern auch im beschaulichen Verl.

Der Sportclub ist im Grunde eine Institution der Regionalliga West. Seit diese in der Saison 2008/09 als dann vierhöchste Spielklasse an den Start ging, waren die Ostwestfalen immer dabei und hatten ein Jahr zuvor gemeinsam mit RWE die Qualifikation für die neue eingleisige Dritte Liga verpasst. Seitdem hängt man wie in Essen unterhalb des Profilagers fest. Jedoch hegt Verl nun auch laut geäußerte Ambitionen, seine Zelte auch einmal wieder höherklassiger aufzuschlagen. Anfang dieser Woche ließ der erste Vorsitzende Raimund Bertels in der Regionalzeitung Die Glocke verlauten, dass Verl „Interesse an der Drittliga-Lizenz“ habe. Sollte man im Frühjahr 2020 noch aussichtsreich im Rennen liegen, sei das in jedem Fall ein Thema.

Spätestens zum 100 Jährigen Vereinsjubiläum im Jahre 2024 wolle man jedoch die Rückkehr in die Dritte Liga geschafft haben, dort spielten die Verler bereits von 1986 – 2003 und von 2007 bis 2008. Man sei auf einem guten Weg mit den örtlichen Sponsoren. Wer soll das schon sein auf dem platten Lande, fragt da der Ortsunkundige? Nun, Verl gehört zu den solventesten Gemeinden in NRW. Auch hier gibt es wie in Rödinghausen einen international tätigen Küchenmogul, und zwar Nobilia, zudem viele sehr gesunde mittelständische Unternehmen. Die Wirtschaftskraft ist traditionell hoch in OWL. Auch der Verein ist kerngesund. Beim Umbau des alten Stadions an der Poststraße in die „Sportclub-Arena“ stemmte der Verein seinen Anteil von einer Millionen Euro jedenfalls problemlos.

Seinen Kader hat der SCV für diese Saison ebenfalls schon richtig aufgepeppt. Es stehen elf Neuzugänge und ebenso viele Abgänge zu Buche. Das Glanzstück ist die Offensive um den massiv profierfahrenen Routinier Zlatko Janjic und Aygün Yildirim, die gemeinsam auf 12 Tore und weitere 6 Vorlagen kommen. Eine beeindruckende Bilanz, vor der RWE gewarnt sein dürfte. Beide sind neu an der Poststraße. Hinzu kommt Urgestein Matze Haeder, seit 9 Jahren für Verl aktiv, auf der rechten Offensivbahn, von wo aus Haeder einen weiteren Treffer und eine Vorlage beisteuerte. Auch die Außenverteidiger sind neu, bzw. wieder da. Aus Großaspach in der Dritten Liga kehrte Rechtsverteidiger Patrick Choroba nach einjährigem Intermezzo nach Verl zurück, links baut man auf Lars Ritzka, der von der Zweitvertretung von Hannover 96 kommt und mit 5 Torvorlagen aufhorchen lässt. Dieser offensichtlichen Offensivkraft verdanken die Ostwestfalen die derzeit gewaltigste Siegesserie der Liga, denn seit unglaublichen 7 Spielen ging der Tabellenzweite ausschließlich als Sieger vom Platz. 25 Treffer gingen bislang auf das Konto der Verler, deren Defensive mit bislang 7 Gegentreffern ebenso stabil ist wie die RWE. Die einzige Niederlage gab es am 1. Spieltag Zuhause gegen Wattenscheid 09, darauf folgte ein Remis bei RWO. Ruhrgebietsvereine kann der SCV offenbar nicht so gut. Ein gutes Omen.

Wie wird Verl an der Hafenstraße auftreten? Chefcoach Guerino Capretti, mit 37 Jahren ein typischer Vertreter der neuen jungen Trainergeneration, wird sich natürlich so seine Gedanken machen, wie er mit seinem Team in diesem Spitzenspiel bestehen kann. Das Spiel am Dienstag gegen Bergisch Gladbach, das mit 3:0 an die Capretti-Truppe ging, bot hierfür wenig Erkenntnisse, weil Bergisch bei allem Respekt nur Laufkundschaft darstellte und nur passiv hinten drin stand, ohne dabei auch nur die geringste Kompaktheit aufzuweisen. Alles wirkte wie ein Trainingsspiel um Punkte. In Essen wartet eine andere Aufgabe. Im Grunde kann man ja keinem Gegner guten Gewissens empfehlen, gegen RWE derartig Pressing zu spielen, wie Bonn es letzten Freitag getan hat. Das Spiel wurde in den späteren Kommentaren enger gemacht, als es war. Schon in der ersten Hälfte hatte Essen ein halbes Dutzend bester Torchancen. Die Bonner Stürmer rannten vorne wie gedopte Rennpferde, RWE hingegen baute eine Raute auf, in welcher der Ball zirkulierte. Die einen ließen immense Kraft, die anderen ließen den Ball laufen.

Zudem gelang es Bonn nur in der Phase nach dem Ausgleich, der sie kurzzeitig euphorisierte, auch in zweiter Linie mit den richtigen Abständen anzulaufen und sich zwei, drei gefährliche Ballgewinne zu sichern. Vorher überspielte Rot-Weiss diese Zone mehrfach. Schon in der Halbzeit waren sich beim Pausen-Stauder viele Beobachter sicher, dass die Gäste das nicht durchhalten werden können. Dass RWE scheinbar immer eine nur mäßige erste und eine starke zweite Hälfte spielt, ist ja auch nur die halbe Wahrheit. Im System Titz wird der Gegner in Halbzeit 1 mit riskant wirkendem aber meist gekonntem Aufbauspiel dazu aufgefordert, sich durch wildes Pressing müde zu laufen und fällt oft darauf herein. Auch Lippstadt. Da wurden am Ende 18 (!) gute bis sehr gute Chancen für RWE verzeichnet. Ab der 60. Minute überwältigt Rot-Weiss den Gegner fußballerisch und physisch. Die große Frage ist also, welche Variante wird Verl wählen, das sehr hohe Anlaufen oder zieht es sich eher zurück? Mit dem abgebrühten Goalgetter Janjic vorne drin wird man sich eher nicht auf die Balljagd machen, sondern auf die Chance warten. Capretti hat aber sicherlich seine eigenen Vorstellungen davon.

Die nächste Frage, wie ist es um die Physis der Verler bestellt? Offenbar gut. Im DFB-Pokal gegen Augsburg gelang dem SCV die größte Überraschung der ersten Runde und er kickte den auch in der Bundesliga nur schwer ins Rollen gekommenen Erstligisten raus aus dem Wettbewerb. Auch gegen Ende hin hatten die Ostwestfalen dabei keine Einbrüche zu verzeichnen und wirkten im Saft stehend. Die Belohnung ist ein weiteres Pokalmatch gegen Holstein Kiel. Einzig der zweite Anzug sitzt wahrscheinlich nicht ganz so exakt wie bei RWE. Im Westfalenpokal gab es mit stark durchrotierter Truppe eine saftige 1:4 Klatsche beim Oberligisten Meinerzhagen und die Verler boten dabei das komplette Pokal-Kontrastprogramm. Unter dem Strich erwartet Essen jedoch ein Duell auf Augenhöhe und nicht unwahrscheinlich wirklich die größte Aufgabe seit dem Auftritt in Rödinghausen.

Bei RWE gibt es zum Glück personell das gewohnte Bild. Bis auf Philipp Zeiger und dem weiter im Aufbautraining befindlichem Cedric Harenbrock kann Christian Titz aus dem Vollen schöpfen. Auch Dennis Grote wird dabei sein können, der beim Bonn-Spiel in der Halbzeit weichen musste. Zum einen, weil er nicht seinen allerbesten Tag erwischt hatte, zum anderen wohl auch, weil bei bislang vier Gelben Karten eine Sperre für das Sonntagsspiel gedroht hätte. Ob Titz seiner zuletzt gewohnten Startelf das Vertrauen schenken wird, bleibt offen. Der derzeit treffsichere Hedon Selishta empfahl sich jedenfalls Mittwochabend in Herne beim spektakulären 8:4 Sieg im Freundschaftsspiel bei der Westfalia mit drei Treffern in der ersten Hälfte für einen Startelfeinsatz. Da der rot-weisse Chefcoach zu stets akribischer Spielvorbereitung neigt, wird er in jedem Falle alle Varianten, die ihm Kollege Capretti präsentieren können wird, auf dem Schirm haben und die passenden taktischen Antworten geben können. Klar ist, eine der beiden großartigen Serien wird reißen. Wollen die Gäste die der Essener knacken und die ihrige retten, müssen sie an der Hafenstraße jedenfalls einen Dreier holen. Beim letzten Gastspiel im März gelang ihnen dieses, doch die jetzige RWE-Truppe hat mit ihren Vorgängern nichts mehr gemein. So werden die Roten unterstützt von ihrem sicherlich wieder in fünfstelliger Anzahl erscheinenden Anhang alles daran setzen, dass für den Sportclub die Trauben an der Hafenstraße sehr hoch und am Ende zu hoch hängen werden und Verl das Verlieren wieder gelehrt bekommt. 

NUR DER RWE!

Fotos by M.R.

Fotos by M.E.