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„Wuppertal-Asozial!“ – Oder wie Rot-Weiss Essen die Aufstiegsträume der Bergischen zerstörte

Am Sonntag, den 23.02., treffen unsere Essener Rot-Weissen im Stadion an der Hafenstraße auf den Wuppertaler SV. Das heißt tabellarisch, der Erste erwartet den Zweiten. Bevor wir uns in einem Vorbericht allen wichtigen Facetten der Gegenwart und diesem aktuellen Spitzenspiel widmen, stimmen wir euch mit einem nostalgischen Rückblick auf die Spielzeit 2003/04 auf den Westschlager ein. Das damalige sehr gute Ende für RWE soll natürlich auch ein gutes Omen für die kommende Aufgabe sein.

Rückblende Spielzeit 2003/04:

RWE und der WSV lieferten sich im Laufe der Jahrzehnte einige heiße Duelle und immer wieder waren es echte Spitzenspiele im Kampf um den Aufstieg in die nächsthöhere Liga. Es ist allerdings nun länger her, dass Essen gegen Wuppertal eine echte Schlagerpartie um den Platz ganz oben in der Tabelle gewesen ist. Und zwar fast 17 Jahre. Am Ostersamstag 2004 fegten entfesselte Essener den Erzrivalen aus dem Tal mit 5:2 aus dem Georg-Melches-Stadion. Der WSV war als Tabellenführer der Regionalliga Nord, damals eine der dritthöchsten Spielklassen, zum Zweiten nach Essen gereist. Mit 4 Punkten Vorsprung im Gepäck. RWE stand also unter größerem Druck, allerdings berechtigten damals die ersten beiden Tabellenplätze der Liga unisono zum Direktaufstieg.

Die Wuppertaler waren bis dato die große Überraschungsmannschaft der Saison und standen als Aufsteiger von Anfang an weit oben, während RWE als einer der Saisonfavoriten gestartet war und in den Vorjahren gleich zweimal den Aufstieg erst am letzten Spieltag verpasst hatte. Allerdings kamen die Essener nur mühsam in die Saison, was Trainer Harry Pleß nach 5 Spieltagen, RWE hatte nur ebenso viele Punkte gesammelt, den Job kosten sollte. Was folgte, war ein sehr kurzes und sehr erfolgreiches Intermezzo unter Holger Fach, der Essen in drei Spielen zu drei Siegen gegen Wattenscheid, in St. Pauli und Dynamo Dresden führen sollte. Eitel Sonnenschein herrschte an der Hafenstraße, doch schnell verfinsterte sich die Stimmung. Fachs Ex-Klub Borussia Mönchengladbach erinnerte sich in Persona des damaligen Sportchefs Christian Hochstätter an seinen vorherigen Amateurtrainer Fach, nachdem Chefcoach Ewald Lienen sich zu Saisonbeginn sportlich verzettelt hatte und nach 6 Spieltagen demissioniert wurde. Das wirkte wie ein abgekartetes Spiel. Quasi über Nacht heuerte Essens „Erfolgscoach“ so wieder bei den Fohlen an und RWE war gelackmeiert und wurde an die Causa Udo Lattek erinnert.

Der hatte in den 70er Jahren RWE, dem Fahrrad, wie Lattek charmant urteilte, trotz erfolgter Zusage doch einen Korb gegeben, um den Mercedes, Borussia Mönchengladbach, zu trainieren. In beiden Fällen sollte die Spielzeit für die Essener dennoch ein gutes Ende nehmen. Die Erstligaspielzeit 1975/76 beendete RWE unter Lattek-Ersatz Ivica Horvart als Tabellenachter und klopfte an das Tor zum Europapokal. Es war die erfolgreichste Bundesligasaison der Rot-Weissen. Und auch 2003/04 verkraftete RWE den überraschenden Abgang seines hauptverantwortlichen Übungsleiters zum Bökelberg. Obwohl das zunächst nicht so aussehen sollte.

Ausgerechnet beim bärenstarken Aufsteiger aus Wuppertal mussten die Essener am 9. Spieltag der Hinrunde antreten. Unter dem neuen Cheftrainer Jürgen Gelsdorf, der zuvor den VFL Osnabrück hoch in die Zweite Liga gebracht hatte. Auf das Spiel bei den Bergischen blieb Gelsdorf nur wenig Vorbereitungszeit und der taktische Kniff, den Essener Mittefeldboss Bjarne Goldbaek auf die Rechtsverteidigerposition zu stellen, verpuffte wie alles andere auch, was RWE an diesem Abend anstellte. Die Gastgeber siegten 2:0 und schickten ihren Rivalen auf einer Woge des Spotts zurück ins Revier. Die Wuppertaler hatten RWE zu diesem Zeitpunkt um 6 Zähler distanziert.

Bis zur Winterpause stotterte der RWE-Motor weiter. Der Anhang war zwischenzeitlich erzürnt von den Darbietungen seiner Mannschaft. Diese versuchte zu kitten. Vor dem Match gegen den Chemnitzer FC entrollte das Essener Team ein Transparent vor der Nordtribüne und erbat die Unterstützung der Fans. Das wurde wohlwollend quittiert, noch wirksamer war der anschließende 5:0 Erfolg über die Ostdeutschen, eines der besten RWE-Spiele der Vorrunde. Konstanz kehrte jedoch nicht ein. Essen ging nur als 5. in die Winterpause und verlor sein letztes Spiel im Jahr 2003 mit 0:2 bei der Zweitvertretung der Bremer. Stolze 7 Punkte trennten RWE nun vom Liga-Primus aus Wuppertal, 3 von Dynamo Dresden. Die Elbflorenzer bekleideten auf Platz 3 ebenfalls einen Aufstiegsplatz, denn die Werder-Amateure auf dem zweiten Rang hatten keine Aufstiegsberechtigung. Auch der SC Paderborn lag noch vor Rot-Weiss. Aus den 19 Partien vor Weihnachten, die zwei ersten Rückrundenbegegnungen wurden ebenfalls noch im alten Jahr ausgetragen, erreichte RWE insgesamt mäßige 33 Zähler, was einen Schnitt von 1,73 Punkten pro Partie ausmachte. Zu diesem Zeitpunkt war nicht abzusehen, wie klar und deutlich und letztlich sogar ungefährdet Rot-Weiss Essen die Liga gewinnen und aufsteigen sollte.

Nach einer langen Winterpause, die für RWE Ende Februar sogar noch verlängert werden musste, weil starke Schneefälle die Austragung der Partie gegen Neumünster nicht zugelassen hatten, rollte der Ball erst Anfang März wieder für die Gelsdorf-Schützlinge, die so langsam in Fahrt kamen. Die 15 noch ausstehenden Spiele der Saison sollten ein rot-weisser Erfolgs- und Siegeszug werden. Im Vorfeld des Treffens mit dem WSV gewann RWE 4 seiner 6 Partien und spielte in Wattenscheid und Dresden torlos Remis. Geglänzt hatte man aber eher selten. Lediglich gegen Neuling Neumünster gab es ein klares 5:1. Die prestigeträchtigen Partien gegen Eintracht Braunschweig und den FC St. Pauli gewannen die Roten im Stile einer Spitzenmannschaft mit jeweils 1:0. Besonders gegen die Paulianer wurde es emotional, als Ali Bilgin die Kugel mit der allerletzten Chance weit in der Nachspielzeit mehr ins gegnerische Tor stolperte als einschoss, aber auch dafür gab es schließlich 3 Punkte.

Essen punktete jedoch eher mühevoll. Das erfolgreiche Gipfeltreffen mit den Bergischen war dann der Auftakt zu 9 Ligasiegen in Folge, eine Bestmarke, die bislang nicht wieder erreicht worden ist und den zunächst langsam ins Rollen kommenden RWE-Express auf der Saison-Zielgeraden zu einem rasanten Aufstiegs-Intercity machte, der alles überrollte. Im Vorfeld des Spiels hatten sich die Fangruppen auf den Internet-Bühnen nach allen Regeln der Kunst behakt und im RWE-Forum wurde eigens ein „Pöbel-Thread“ eingerichtet, um anderswo noch eine halbwegs kultivierte Diskussion zuzulassen. Kultiviert zeigten sich die angereisten WSV-Anhänger beim Match an der Hafenstraße erwartungsgemäß nicht. Als die Einlaufkinder, welche die Mannschaften auf das Feld begleitet hatten, auf ihrer Ehrenrunde die auf der Ostkurve befindlichen Fans aus dem Tal passierten, flogen einige Bengalos von dort in die Fangnetze. Das war wohl eher eine ungeschickte Dämlichkeit denn eine bewusste Attacke auf den Nachwuchs, jedoch reagierten die Essener Fanblöcke mit dem wütenden Werturteil „Wuppertal-Asozial“ auf diese Entgleisung.

Und auch auf dem Rasen sollte es richtig zur Sache gehen. RWE zeigte, wer Herr im Hause ist und stellte bereits nach knapp 30 Minuten auf 2:0 durch Tore von Erwin Koen und Kapitän Bjarne Goldbaek. Essen zeigte deutlich mehr Biss und Willen als die Gäste. Das Ergebnis hatte bis zur Pause Bestand, kurz danach produzierten WSV-Keeper Marly und Abwehrchef Baumann nach einer eher harmlosen Hereingabe von Ramazan Yildirim gemeinsam ein wunderschönes Eigentor zum 0:3 aus ihrer Sicht. Damit war der Drops eigentlich gelutscht. Dennoch bleib das Spiel rasant und sogar noch spannend. Kurz darauf verwandelte der Ex-Rot-Weisse Oliver Ebersbach einen direkten Freistoß zum Anschlusstreffer. Der WSV hätte dann sogar durch den eingewechselten heutigen RWO-Trainer Mike Terranova das 2:3 erzielen können, doch Terra traf relativ frei aus spitzem Winkel nur das Außennetz.

Für Nervenberuhigung sorgte nach 78 Zeigerumdrehungen dann ein Essener Konter zum 4:1 gegen einen weit aufgerückten Gast. Benjamin Köhler, Erwin Koen und zuletzt Ali Bilgin spielten Katz und Maus mit den verbliebenen WSV-Akteuren inklusive Torwart Maly. Bilgin schob das Leder schließlich nach einem letzten Haken in die Maschen. Doch auch jetzt gab es noch Aufreger. Zuerst sah RWE-Linksverteidiger Benjamin Weigelt die Gelb-Rote Karte, nachdem er seinen späteren Oberhausener Mannschaftskameraden Terranova vorverwarnt regelwidrig von den kurzen Beinen geholt hatte. Dann gelang dem WSV durch seinen Kapitän Bayertz per Sonntagsschuss der erneute Anschlusstreffer.

Das Aufkommen jeglicher Hoffnung erstickte RWE jedoch fast im Gegenzug. Der WSV war erneut mit fast allen Mann im Angriff gewesen und wurde ausgekontert. Sven Fischer legte den Ball quer vor dem Tor auf Erwin Koen und Essens in dieser Saison schlichtweg überragender fliegender Holländer erzielte einen weiteren seiner insgesamt 18 Saisontreffer. Der markierte den Endstand zum 5:2, jedoch gab es noch ein weiteres Sahnehäubchen in Form eines verschossenen Foulelfmeters durch den WSV. Benjamin Köhler soll Mike Terranova im 16er gefoult haben, was eher nicht der Fall gewesen ist. Wuppertals heutiger Coach Björn Mehnert nahm das schmeichelhafte Geschenk von Schiedsrichter Thorsten Schriever nicht an und rutschte bei der Ausführung des Strafstoßes am Punkt weg. Die Kugel jagte über das RWE-Tor hinweg und Essens Schlussmann Sascha Kirschstein brüllte dem Fehlschützen seine Freude und wohl auch ein wenig Spott ins Gesicht.

Am Ende des Tages waren die etwa 17.000 RWE-Anhänger auf Wolke 1907 und der WSV schaute inklusive seines bereits damals großen Gönners Friedhelm Runge dumm aus der Wäsche. Während RWE-Coach Jürgen Gelsdorf beim anschließenden Pressegespräch mit dem WDR verständlicherweise sehr gut gelaunt war, wirkte sein Gegenüber Georg Kress extrem verbissen und bemühte eher Durchhalteparolen. Auch die Aussagen des Wuppertaler Abwehrchefs Karsten Baumann im Interview kurz nach dem Spiel sprachen Bände. Baumann räumte spontan vor der Kamera ein, sich nicht sicher zu sein, ob der WSV nach dieser Niederlage zurückkomme. Diese Schlappe stellte sich als ein Wirkungstreffer heraus, der WSV hing von nun an in den Seilen und erwartete nur noch den saisonalen K.O.-Schlag.

Statistik:

Rot-Weiss Essen: Wuppertaler SV 5:2 (3:0) am 10.04.2004

Essen Georg-Melches-Stadion 17.000 Zuschauer

Rot-Weiss Essen: Kirschstein – Kück – Ristau – Weigelt (Gelb-Rot 82.) – Bilgin – Ernst (52. Yildirim) –  Goldbaek (Kapitän) – Köhler – Wedau – Koen (85. Haastrup) – Schoof (73. Fischer)

Trainer: Gelsdorf

Wuppertaler SV: Maly – Baumann – Matlik – Mehnert – Bayertz (Kapitän) – Gensler (66. Terranova) – Hyza (81. Klemmer) – Narewsky – Tavarez (43. Gaißmayer) – Ebersbach – Kohout

Trainer: Kress

Tore: 1:0 Koen (23.), 2:0 Goldbaek (28.), 3:0 Baumann (56. Eigentor), 3:1 Ebersbach (58.), 4:1 Bilgin (78.), 4:2 Bayertz (83.), 5:2 Koen (85.)

Besondere Vorkommnisse: Mehnert (Wuppertal) verschießt Foulelfmeter (87.)

Schiedsrichter: Thorsten Schriever

Obwohl die Wuppertaler auch nach dieser deutlichen Klatsche im Georg-Melches Stadion die Tabelle noch immer anführten und RWE in der Verfolgerrolle blieb, entwickelten sich die Saisonwege der beiden Teams nun deutlich auseinander. Bereits am darauf folgenden Wochenende unterlagen die Kress Schützlinge erneut, und zwar dem Chemnitzer FC mit 1:2. RWE holte sich hingegen die Tabellenführung mit einem 4:0 bei der Zweiten des HSV und gab sie bis zum Schluss nicht mehr ab. Nicht nur das. Essen setzte sich kontinuierlich in der bis dato sehr engen Tabelle von der Konkurrenz ab. Nach fünf weiteren Siegen in Folge feierte die Mannschaft von Jürgen Gelsdorf bereits am 32.Spieltag den sicheren Aufstieg in die zweite Liga und war somit bereits 2 volle Spielrunden vor Schluss im Hafen der Sehnsucht eingelaufen.

Verantwortlich dafür war ein satter 7:0 Erfolg der Essener über Gelsenkirchens Zweitvertretung, der in der Wattenscheider Lohrheide eingefahren wurde. Der WSV hingegen holte in derselben Zeit nur 8 Punkte und kassierte am selben Spieltag, als RWE Gelsenkirchen den Hintern versohlte, eine 0:4 Schlappe bei den Amateuren des 1. FC Köln. RWE war damit uneinholbar für die Bergischen enteilt. Diese ruinierten sich zudem ihr Torverhältnis gegenüber dem Tabellenzweiten Dynamo Dresden so sehr, dass nur noch ein kleines Fußballwunder den Aufstieg der Löwen noch ermöglichen hätte können. Dieses blieb aus. Dem WSV ging auf der Zielgeraden die Luft aus.

Am Ende waren die Wuppertaler nur noch Tabellenvierter hinter den Aufsteigern Essen und Dresden sowie dem SC Paderborn. So nahe wie in der Spielzeit 2003/04, in der sie zuvor lange Zeit eine führende Rolle gespielt hatten, sollten die Bergischen der zweiten Liga jedoch nie wieder kommen. RWE gewann auch seine beiden letzten Saisonspiele mit 3:1 gegen den BVB II und 2:0 bei Sachsen Leipzig. Die 41 Punkte, die Essen aus den 15 Partien nach der Winterpause geholt hatte, sorgten für einen Rekordschnitt von 2,73 Zählern in dieser Phase. Der Aufstieg sollte das vergolden. Erfolgstrainer Jürgen Gelsdorf trug am Ende den volkstümlichen Namen Onkel Jürgen.

Der Essener Kader der Saison 2003/04 war einer der besten in diesem Millennium. RWE hatte eine perfekte Mischung aus erfahrenen Routiniers und spannenden jungen Kickern gefunden. Das fand leider auch die Konkurrenz, die sich besonders für die zweite Kategorie interessieren sollte. Keeper Sascha Kirschstein weckte große Begehrlichkeiten beim damals noch sehr erfolgreichen Hamburger SV. Kirsche hatte als junges von Eintracht Braunschweig gekommenes Talent den eigentlich als Platzhirsch fürs Tor geholten sehr profierfahrenen Marco Sejna verdrängt und wurde zum Publikumsliebling an der Hafenstraße. Am Ende der Aufstiegssaison wechselte der damals 23- Jährige an die Alster. Beim HSV spielte er sogar Champions League.

Damit nicht genug, mit Linksverteidiger Benjamin Weigelt und Stürmer Benjamin Köhler, der 15 Tore und diverse Assists zum rot-weissen Aufstieg beigesteuert hatte, verließen zwei weitere sehr vielversprechende Youngster RWE in Richtung FSV Mainz und Eintracht Frankfurt. Diesen Aderlass verkraftete Rot-Weiss in der Folgesaison eine Liga höher nicht. Dennoch ist das Aufstiegsjahr 2003/04 für den RWE-Anhang mit ähnlich guten Erinnerungen verknüpft wie der Triumphzug durch die Aufstiegsrunde zur zweiten Liga unter Jürgen Röber gut 10 Jahre zuvor. Wir hätten nichts dagegen, wenn in der aktuellen Spielzeit 2021/22 mit einem erneuten Erfolg über den Wuppertaler SV ein wichtiger Baustein zum Erreichen des großen Zieles gelegt werden könnte. Noch schwelgen wir ein wenig in Erinnerungen, doch bald wird es ernst.

NUR DER RWE!

Sven Meyering