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WM 1954 Finale Deutschland – Ungarn

Das Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft ist das wohl größte Spiel, das diese Sportart zu bieten hat. Rund um den Globus schauen mehrere Milliarden Menschen zu und für die beiden beteiligten Nationen ist freudige Anspannung pur angesagt. Deutschland erreichte im Laufe der Geschichte des Turniers nicht weniger als acht Endspiele. Das ist immer noch Welt-Rekord. 

Es begann 1954 im Berner Wankdorf Stadion, am Ende gab es ein Wunder. Im Finale 1966 unterlag die deutsche Elf in einem epischen Spiel im Londoner Wembleystadion den gastgebenden Engländern nach Verlängerung und kassierte dabei das berühmteste Nicht-Tor der Fußballgeschichte. Acht Jahre später triumphierte man beim Turnier im eigenen Land. Bei den Turnieren 1982 (Vizeweltmeister in Spanien gegen Italien), 1986 (Vize-Weltmeister in Mexiko gegen Argentinien) und 1990 (Weltmeister in Italien) gegen Argentinien legte die DFB-Elf einen Endspiel-Hattrick hin. Während man 2002 bei der WM in Südkorea und Japan noch Brasilien im Finale unterliegen sollte, holten sich die Adlerträger 2014 im Land des Sambas ihren vierten Stern. Wir erinnern an die vier deutschen Endspieltriumphe.

WM 1954 in der Schweiz

04.07.1954in Bern, Wankdorf-Stadion (Zuschauer:62.500), Anstoß 16:53Uhr (MEZ), Schiedsrichter: William Ling (England)

Deutschland: Ungarn 3:2(2:2)

Aufstellungen:

Deutschland:

Turek – Kohlmeyer, Liebrich, Posipal – Mai, Eckel, Fritz Walter (C), Morlock – Schäfer, Ottmar Walter, Rahn

Trainer: Josef Herberger

Ungarn:

Grosics – Buzansky, Lantos, Bozsik, Lorant, Zakarias – Czibor, Hidegkuti, Toth – Kocsis, Puskas (C) 

Trainer: Gusztav Sebes

Tore:

0:1 Puskas (6.), 0:2 Czibor (8.), 1:2 Morlock (10.), 2:2 Rahn 18.), 3:2 Rahn (84.)

Es ist ein Wunder, ja ein Wunder! Deutschland schlägt Ungarn mit 3:2 Toren im Finale in Bern und ist Weltmeister!

Deutschland ist Fußball-Weltmeister! Was wir nicht zu glauben wagten, aber insgeheim hofften, ist eingetreten. Der krasse Außenseiter hat die als unbesiegbar geltenden Ungarn, die seit 4,5 Jahren kein Länderspiel mehr verloren hatten, im Finale der 5. Fußball-Weltmeisterschaft mit 3:2 geschlagen. Max Morlock vom 1. FC Nürnberg und der überragende Helmut Rahn von Rot-Weiss Essen sorgten mit ihren Toren für das Wunder!

Das Personal und die taktische Ausrichtung

Sepp Herberger schickte seine Mannschaft unverändert gegenüber dem triumphalen 6:1 Erfolg im Halbfinale gegen Österreich auf den Rasen. Toni Turek von Fortuna Düsseldorf stand im Tor, vor ihm agierten Kohlmeyer und Liebrich aus Kaiserslautern sowie Posipal vom Hamburger SV. Die deutsche Läuferreihe bildeten Karl Mai aus Fürth, Horst Eckel und Kapitän Fritz Walter aus Kaiserslautern und Max Morlock aus Nürnberg. Vorne rahmte Hans Schäfer vom 1.FC Köln und Helmut Rahn von Rot-Weiss Essen den Lauterer Ottmar Walter in der Sturmmitte ein. Wer eine reine Abwehrschlacht der Deutschen erwartet hatte, sah sich getäuscht. Vielmehr versuchte das DFB-Team stetig mitzuspielen und so die Ungarn auch vom eigenen Tor wegzuhalten.

Das Spiel der deutschen Mannschaft war wesentlich mehr auf die Flügel ausgelegt, als das der Ungarn, die es häufig durch das Zentrum versuchten, in erster Linie durch Hidegkuti, um den sich Horst Eckel besonders kümmern sollte. Im Spielaufbau aus der Abwehr heraus setzte Deutschland zunächst Fritz Walter in Szene, der Spielmacher verteilte die Bälle dann meistens auf die Außen, wo Schäfer und vor allem Helmut Rahn der offensiv ausgerichteten ungarischen Außenverteidigung das Leben sehr schwer machten. Das war auch der Schlüssel zum 3:2 Siegtor, bei dem Schäfer Bozsik auf dem linken Flügel das Nachsehen gab, Rahn stand beim Abpraller nach Schäfers Flanke dann goldrichtig.

Die Pluspunkte

Was für eine unfassbare Moral, welch ein Kampfgeist, welch eine Mannschaftsleistung! Die deutsche Elf erlebte zunächst einen Albtraum und lag nach 8 Minuten 0:2 zurück, sodass sofort Gefühle an die Schmach aus der Vorrunde zurückkamen. Doch bereits 10 Minuten später hieß es 2:2! Die Treffer waren keineswegs einem schnellen Umschaltspiel nach Ballgewinnen geschuldet, vielmehr spielte die deutsche Mannschaft mit zunehmender Spieldauer immer mehr auf Augenhöhe und kombinierte sich ihre Torchancen heraus. Nach dem 0:2 blieb sie ruhig und setzte den wichtigen Akzent des Anschlusstreffers.

Ob Helmut Rahn tatsächlich scharf vor das ungarische Tor flanken oder selbst abziehen wollte, blieb dabei nebensächlich, Ungarn stand schlecht im Raum und Morlock war den entscheidenden Schritt schneller als Grosics im Tor. Dann folgte eine Reihe gefährlicher Standards der deutschen Elf, die Ungarn wackelten dabei erstaunlich und klassierten das 2:2 durch Rahn, der sich am langen Pfosten großer Freiheit erfreute, während Grosics bedrängt von Schäfer nicht an den Ball gekommen war. Deutschland hatte dem großen Favoriten nun Wirkungstreffer verpasst.

Fritz Walter war der Dreh- und Angelpunkt des deutschen Spiels, immer wieder wurde er gesucht, gefunden und verlagerte dann das Spiel der Deutschen auf die Außenbahnen, wo Hans Schäfer und Helmut Rahn den Ungarn schwer zusetzten. Während man Puskas und Hidegkuti bei Weitem nicht ganz aus dem Spiel nehmen konnte, wurde der Torschützenkönig des Turniers Sandor Kocsis von der deutschen Defensive gut kontrolliert, einmal jedoch rettete für Turek nach einem Kopfball der ungarischen Nummer 9 der Querbalken. Turek selbst machte das beste Spiel seiner Karriere und entschärfte mehrere Bälle der Kategorie Unhaltbar.

So entnervte die deutsche Mannschaft die Ungarn nach und nach, bis Helmut Rahn die Vorteile der Beidfüßigkeit eindrucksvoll unter Beweis stellte. Mit Rechts nahm er den Ball an und schlug einen Haken nach innen, obwohl der Passweg zu Ottmar Walter in der rechten Strafraumhälfte völlig frei war. Ungarns Verteidigung fiel auf die Finte herein. Rahn feuerte den Ball dann mit seinem linken Fuß ab und wohl kein Torsteher der Welt hätte diesen Schuss aus 16 Metern in das vom Schützen aus gesehene linke Toreck halten können. Auch Grosics nicht. Die Schlussphase überstand man dank Toni Turek, der eine letzte Großchance der Magyaren vereitelte. Ein solches Spiel benötigt eben Spieler, die über sich hinauswachsen.

Die Knackpunkte

Es schien zunächst so als sei die Herberger-Elf gar nicht auf dem Platz bzw. als wolle sie den Ungarn den Weltmeistertitel kampflos überlassen. Zwar erspielte sich die DFB-Elf sofort den ersten Eckstoß, dann aber wurde sie von den Ungarn überrollt. Nach 8 Spielminuten hieß es 2:0 für die Magyaren. Beim Aufeinandertreffen in der Vorrunde hatten die Ungarn immerhin noch doppelt so viele Minuten gebraucht, um diesen Vorsprung herauszuschießen. Bei beiden Treffern half Deutschland stark mit. Beim 0:1 spielte Eckel einen unbedrängten Fehlpass, Czibors Schuss wurde zunächst geblockt, doch er fiel vor die Füße von Puskas, der sich nicht zweimal bitten ließ.

Zwei Minuten später waren die Fehler noch krasser. Kohlmeyer spielte bedrängt von einem Gegenspieler einen schlampigen Rückpass auf Turek, der den Ball nicht zu fassen bekam und ihn Czibor selber vor die Füße rollte. Zu diesem Zeitpunkt schien es nicht unwahrscheinlich, dass die Niederlage noch deutlicher ausfallen wurde als beim Aufeinandertreffen zwei Wochen zuvor in Basel. Insgesamt hatten die Ungarn über das ganze Spiel hinweg weitere, sehr vielversprechende Abschlüsse, doch nach der katastrophalen Anfangsphase hielten die Deutschen nun dagegen, häufig rettete Turek, manchmal aber nur Pfosten und Latte. Deutschland hatte einfach auch das Matchglück, das der Underdog braucht, um ein solches Spiel zu gewinnen.

Die Aufreger

Zwei Minuten nach Helmut Rahns 3:2 stockte allen deutschen Fußballfans und ihrer Mannschaft der Atem. Ferenc Puskas war auf dem linken Flügel freigespielt worden und hatte trocken ins lange Eck vollendet, 3:3 schien es nun zu stehen. Aber der Linienrichter erkannte eine Abseitsposition des Majors der ungarischen Armee. Die deutschen Abwehrspieler monierten sofort auf Abseits, was dann auch der Linienrichter anzeigte. Ganz aufzulösen war die Situation nicht. Vielleicht wird es irgendwann einmal eine technische Unterstützung von Schieds- und Linienrichtern bei der Bewertung von Abseitsentscheidungen geben, die dann sicherlich unfehlbar sein wird.

Fazit

Ein wundervoller Sieg, vielleicht sogar ein Wunder! Ganz bestimmt aber das Ergebnis einer großartigen Teamarbeit, bei der fast alle deutschen Spieler ihr Leistungsvermögen voll ausschöpften und zum Teil darüber hinaus gingen. Sepp Herberger taktierte viel in diesem Turnier und er taktierte richtig. Der größte Tag des deutschen Fußballs ist gekommen!

Blick zurück aus der Gegenwart – Das Wunder von Bern, ein deutscher Gründungsmythos und Rot-Weiss Essen sein Boss!

Am Tag des 04. Juli 1954 Uhr zeigte die Uhr 18:34 als Helmut Rahn das Tor der Tore schoss und Herbert Zimmermann zum Torjubel aller Torjubel verleitete. Den vierfachen Torschrei der Reporter-Legende kennt noch heute fast jedes Kind in Deutschland. Die Radio-Reportage für den NDR, bei der ein ekstatisch losgelöster und authentischer Zimmermann das Spiel für die Zuhörer am Radio förmlich erlebbar und virtuell sichtbar machte, trug zum Legendenstatus des Endspiels bei. Dabei war die WM 1954 das erste Großereignis, das auch im Fernsehen übertragen wurde.

Die wenigsten Privathaushalte hatten ein eigenes TV, wer eins hatte, durfte sich am Tag des Endspiels über zahlreichen Besuch freuen. Auch Gaststätten profitierten vom WM-Boom, die Live-Übertragung der Fußball-WM garantierte eine rappelvolle Kneipe. So war die Anschaffung eines Fernsehers für viele Gastwirte eine sehr lohnende Investition, allerdings auch nur, weil die deutsche Mannschaft so ein erfolgreiches Turnier spielte und nicht frühzeitig abreisen musste. Wer weder privat noch in einer Gastwirtschaft einen Platz fand, tummelte sich in Scharen vor den Schaufenstern von Elektrogeschäften, wo Fernseher aufgestellt waren und das Spiel quasi auf die Straßen übertrugen. Die waren ansonsten am 04.07.1954 gähnend leer. Weil Sonntag war und weil Deutschland im Endspiel stand, was kaum jemand versäumen wollte. Das Spiel war somit auch eine Art Geburtsstunde des Fernsehens, denn der Verkauf von TV-Geräten wurde ab nun immens angeheizt.

Das Finale hatte Stories ohne Ende auf Lager. Da war die Ausgangslage. Die als unbesiegbar geltenden Ungarn, die viereinhalb Jahre lang kein Länderspiel verloren hatten. Die Magyaren galten als eine Wunderelf und im Grunde musste in den Augen vieler Fußball-Experten der damaligen Zeit das Turnier gar nicht ausgespielt werden. Den Coup Jules Rimet hätte man den Ungarn einfach schon vorher überreichen sollen. Auf der anderen Seite Deutschland, der klare Underdog dem vor Turnierbeginn nichts zugetraut worden war, auch wenn die Herberger-Elf sich spätestens mit ihrem 6:1 Kantersieg über Österreich im Halbfinale Respekt verschafft hatte.

Doch Ungarn war ein anderes Kaliber. Bereits in der Vorrunde des Turniers waren beide Teams aufeinandergetroffen. Die Mannschaft von Gusztav Sebes hatte das DFB-Team dabei mit sage und schreibe 8:3 Toren auseinandergenommen. Kein späterer Weltmeister kassierte bei einer Endrunde jemals eine ähnlich hohe Klatsche. Trainer-Fuchs Herberger hatte das jedoch einkalkuliert. Der Bundestrainer schickte nur eine B-Elf auf das Feld. Der Grund, der seltsame Turniermodus. Da die deutsche Mannschaft zum Auftakt überzeugend 4:1 gegen die Türkei gewonnen hatte, übrigens auch schon in Bern, gab es nach der Niederlage gegen die Ungarn ein Entscheidungsspiel, wieder gegen die Türkei, die im anderen Vergleich Südkorea geschlagen hatte.

Weder gab es ein Duell zwischen der Türkei und Ungarn noch zwischen Deutschland und Südkorea, denn es waren in der Gruppe mit vier Teams nur zwei Partien vorgesehen. Zum Glück für Deutschland zählte deswegen nicht das Torverhältnis und im fälligen Entscheidungsspiel gegen die Türken gewann Deutschlands vermeintlich beste Elf mit 7:2. Der Begriff „Elf“ passte damals übrigens noch hundertprozentig, denn Auswechslungen gab es noch nicht und wer auf dem Feld stand, spielte durch, wenn er sich nicht verletzte oder eine Matchstrafe kassierte.  Das war für die Reservisten wiederum schlecht, denn sie waren ohne Chance, in das Spiel eingreifen zu können. Die gestrenge aber zugleich auch empathische Vaterfigur Herberger war somit auch als Psychologe gefragt, um allen Spielern gerecht zu werden.

Das galt vor allem für das Enfant Terrible der deutschen Mannschaft „Boss“ Helmut Rahn aus Essen, der laut Herbert Zimmermann Dynamit in seinen Füßen habe. Rahn zählte zunächst nicht zu den Spielern, auf die Herberger bedingungslos setzte. Auf Rechtsaußen spielte zu Beginn der Gelsenkirchener Bernie Klodt. Als Rahn bei der in Kauf genommenen 3:8-Demontage gegen Ungarn ran durfte, fühlte er sich hernach erst recht ins zweite Glied zurückgesetzt, denn beim Entscheidungsspiel gegen die Türkei spielte wiederum Bernie Klodt.

Der Boss, der schon damals den Bierchen gerne zusprach, war ins Mark getroffen. Bei Rot-Weiss Essen war Rahn unumstritten und Zurücksetzung kannte er nicht. Herberger spürte aber von Anfang an, dass der Mann von RWE noch eine große Rolle in der Schweiz spielen könnte. So teilte er sich auf des Trainers Weisung ein Zimmer mit Mannschaftskapitän und Herbergers verlängertem Arm Fritz Walter. Der Spielmacher des 1.FC Kaiserslautern war gut 9 Jahre älter als Helmut Rahn und auch vom Naturell her ruhiger. Der Boss und der Fritz ergänzten sich gut. Fritz Walter war es auch, der Herberger dazu riet, Rahn beim Viertelfinale gegen Jugoslawien in Genf spielen zu lassen. So opferte er Teamplayer Klodt für einen unberechenbareren Individualisten. Der Boss versprach dem Chef vor der Partie aus Dank ein Tor und er lieferte.

Sechs Minuten vor Schluss erlöste er Deutschland mit einem herrlichen Schuss zum 2:0. Nach der frühen Führung, die aus einem jugoslawischen Eigentor resultierte, stand die DFB-Elf fast nur mit dem Rücken zur Wand und verteidigte. Im folgenden Halbfinale gegen das Nachbarland Österreich sollte das ganz anders werden. Wie ein Orkan fegten die Deutschen über die Ösis hinweg. Am Ende stand es 6:1 für Deutschland. Rahn traf zwar nicht selbst, hatte sich aber nun ins Team gespielt. Nach dieser begeisternden Vorstellung rechnete man sich in Deutschland nun doch Chancen aus, das Unmögliche wahr zu machen. Ungarn war seinem Ruf der Unbesiegbarkeit bislang vollauf gerecht geworden.

Nicht nur das, die Gegner wurden förmlich auseinandergenommen und die Szebes Elf fuhr mit der Empfehlung von 25 geschossenen Toren zum Finale nach Bern. Aber der noch amtierende Weltmeister Uruguay hatte Ungarn immerhin in die Verlängerung gezwungen, in der der Favorit wie im Viertelfinale gegen Brasilien 4:2 siegte. Aber das Spiel hatte Kraft gekostet.

Herberger hatte von Beginn an darauf gesetzt, auch eine Mannschaft wie Ungarn schlagen zu können, aber das gelänge, wenn überhaupt, eben nur einmal in einem Turnier. Diesen besonderen Moment hatte der Bundestrainer für das Finale geplant. Vor diesem flogen ihm und seiner Mannschaft nun die Herzen aus der Heimat zu. Nach dem desaströsen 3:8 aus der Vorrunde hatte dieselbe Heimat Herberger noch als Landesverräter gebrandmarkt. Aber einige Stimmen befürchteten auch ein erneutes Desaster. Wie also sollte man die Übermannschaft schlagen?

Nun, die kaum zu bremsende Angriffsmaschinerie hatte auch ihre Kehrseite der Medaille. Der deutsche Trainerstab hatte Defensivschwächen ausgemacht. Bereits vor der Endrunde in der Schweiz, als Ungarn als erstes Team vom Kontinent im Londoner Wembleystadion gegen England gesiegt hatte. Ende November 1953 holten sich die Briten eine 3:6 Klatsche gegen den neuen Titanen des Weltfußballs ab. Ein weiter Beleg für die Fußball-Welt, dass der neue Titelträger im folgenden Sommer nur Ungarn heißen könnte. Doch Herberger und sein Assistent Albert Sing hatten das Spiel in Wembley genau analysiert. Anders, als die meisten anderen Beobachter, schwärmte die deutsche Delegation nicht von Ungarns Angriffsmacht, sondern bemerkte Anfälligkeiten in der Verteidigung. Immerhin waren den Briten drei Tore gelungen.

Insbesondere das extreme Offensivspiel der ungarischen Außenverteidiger, vor allem von Bozsik, war Herberger aufgefallen. Auch in der Schweiz hatten die Magyaren bereits Zeugnis davon abgelegt, vorne kaum zu bremsen zu sein, es hinten aber manchmal etwas lascher anzugehen. In den vier Partien bis zum Endspiel hatte Ungarn auch bereits sieben Treffer geschluckt, drei davon gegen Deutschland in der Vorrunde. Am Endspieltag regnete es zudem in Strömen, Fritz-Walter-Wetter, wie man es sprichwörtlich nannte, denn der deutsche Kapitän spielte bei Regen gerne groß auf. Fritz Walter hatte sich als Soldat im Zweiten Weltkrieg eine Malaria-Infektion zugezogen, weswegen er bei großer Hitze nicht an sein wahres Leistungsvermögen herankam und Regen als willkommene Erfrischung auffasste.

Zudem war Herberger überzeugt davon, dass die Ungarn ihre unbestreitbare technische Überlegenheit auf nassem Geläuf weniger gut ausspielen konnten. Das zeigte der Chef demonstrativ auch vor Spielbeginn vor laufenden Kameras, als er den Rasen prüfte und mit sehr zuversichtlicher Miene reagierte. Für mehr Standfestigkeit bei den Deutschen sorgten die Schraubstollen in ihren Schuhen, die Adidas-Gründer Adolf Dassler konstruiert hatte und die in Bern zum Einsatz kamen. Ungarn spielte hingegen mit herkömmlichen Schuhen. Als psychologischer Kniff galt die Kabinenwahl. Die Deutschen waren bereits einen Tag vor dem Endspiel ins Wankdorf-Stadion gereist und hatten beim Platzwart dafür gesorgt, dass die DFB-Elf die Kabine zugesprochen bekam, die ihnen bereits beim Auftakt-Sieg gegen die Türkei Glück gebracht hatte.

Zudem beseelte die deutsche Mannschaft der Geist von Spiez.  Das idyllische Trainingslager am Thuner See, das Co-Trainer Sing ausgewählt hatte, gilt bis heute als Inbegriff einer vorbildhaften Teamunterkunft, die der Mannschaft Kraft gibt. Bei der WM 2014 in Brasilien sollte dem Campo Bahia eine ähnliche Strahlkraft zugewiesen werden wie Spiez. Deutschland hatte somit das Wetter, das Equipment, den Aberglauben und den Moment auf seiner Seite, denn der sensationelle Finaleinzug und der Kantersieg gegen Österreich beflügelte den Außenseiter. Dieser kam jedoch bekanntlich nicht gut ins Spiel und lag nach kurzer Zeit deutlich zurück.

Im Stadion verließen einige deutsche Anhänger angeblich schon jetzt ihre Plätze und zogen enttäuscht von dannen. Auf dem Platz machte sich die DFB-Elf jedoch trotzdem Mut und das deutsche Comeback binnen weniger Minuten verunsicherte den Topfavoriten merklich. Nach dem Ausgleich zum 2:2 wurden die deutschen Spieler am Anstoßkreis Zeugen davon, wie sich die beiden Topstars der Ungarn Ferenc Puskas und Nandor Hidegkuti sehr erregt angifteten. Auch wenn die Deutschen nicht verstanden, was gesprochen wurde, war klar, dass es Risse im Selbstbewusstsein der Ungarn gegeben hatte.

Die Dramaturgie des Endspiels hätte auf dem Schreibtisch eines Hollywood-Drehbuchautors wahrscheinlich genau so ausgesehen, wäre aber als unrealistisch angesehen worden. Kein einziges der anderen insgesamt 20 Endspiele kannte am Ende einen Sieger, der einen so hohen Rückstand wettgemacht hatte. Der fast schon mystische Regen, dem immer noch eine große Rolle zugemessen wird, hatte erst im Laufe des Nachmittags eingesetzt, morgens gab es noch strahlenden Sonnenschein.

In der heutigen vollkommen durchchoreographierten Welt des Fußballs kaum zu glauben aber wahr, Schiedsrichter Ling aus England hatte es vor dem Spiel offenbar sehr eilig und pfiff bereits 7 Minuten zu früh an, um 16:53 statt um 17 Uhr. Zudem war das Wunder von Bern tatsächlich der größte Sieg eines Underdogs in der WM-Geschichte. In der Nachbetrachtung wurde häufig ein Bild von einer fußballerisch brillanten ungarischen Mannschaft gezeichnet, was stimmte, die auf eine deutsche Holzertruppe getroffen und der Härte unterlegen war, was nicht stimmte. Auch wenn in Bern der Mythos geboren wurde, dass eine deutsche Mannschaft nie aufgebe und bis zur letzten Sekunde kämpfe, sollte nicht unterschlagen werden, dass die Herberger-Elf auch spielerische Glanzpunkte zu setzen wusste und ein würdiger Weltmeister war.

Nach dem Spiel, Fritz Walter hatte den Coup Jules Rimet aus den Händen seines Namenspatrons empfangen, erklang die deutsche Nationalhymne und die deutschen Zuschauer sangen bei den Klängen des Deutschlandlieds lauthals die erste Strophe mit. Das kam 9 Jahre nach Kriegsende in der restlichen Welt verständlicherweise nicht gut an, war aber ein Ausdruck neu entdeckten deutschen Selbstbewusstseins.

Manche Historiker gehen so weit, das Wunder von Bern als die eigentliche Gründung der Bundesrepublik Deutschland anzusehen, weil das Jahre lang am Boden liegende Land nun eine neue positive Identität entwickeln konnte und zugleich in die Wirtschaftswunderjahre aufbrechen sollte. Von daher ist der erste deutsche WM-Titel noch immer der sagenumwobenste aller Sterne. Den Legenden-Status des Spiels und der gesamten WM 1954 verarbeitete Star-Regisseur Sönke Wortmann 2003 sogar zu einem Kinofilm, der, wen wundert es, „Das Wunder von Bern“ heißen sollte. Dabei gab es schauspielerische RWE-Beteiligung. Helmut Rahn wurde von Sascha Göpel, wie Rahn gebürtiger Essener, verkörpert, Göpel hatte in der Jugend für Rot-Weiss gespielt. Während Göpel gelernter Schauspieler ist und bis heute damit seine Brötchen verdient, spielten etliche „echte“ Fußballer nur in diesem einen Film mit. 

Die Rolle von Kapitän Fritz Walter übernahm Knut Hartwig, Hartwig war 1999 mit RWE aus der viertklassigen Oberliga Nordrhein zurück in die dritte Liga aufgestiegen. Markus Mozin, einst einer der Torhüter bei RWE, spielte einen anderen Torhüter, nämlich Heinz Kwiatkowski. Auch bei den Ungarn wirkte ein auch einmal für RWE tätiger Kicker mit. Michael Borzek verkörperte Mihaly Lantos. Wortmann lehnte den Film im Grunde an der (zum Teil fiktiven) Geschichte von Helmut Rahn an und ließ die Szenen in der deutschen Heimat in Essen spielen. Während der Regisseur die entscheidenden Szenen des Endspiels detailgetreu und minuziös nachstellen ließ, füllte er die restlichen Minuten damit, dass er seine Akteure quasi frei aufspielen ließ. Alles andere wäre zu aufwändig gewesen.

Daher wurde auch auf Szenen aus anderen Spielen verzichtet, das 6:1 gegen Österreich stellte Wortmann mit dem Kniff dar, dass er Kinder auf dem Bolzplatz zur eingespielten Radioreportage kicken ließ. Der Kinofilm, der auch den Hype vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland 2006 befeuern sollte, brachte das Wunder von Bern und seine Protagonisten somit auch den weitaus jüngeren Generationen näher. Die erhaltenen Originalaufnahmen des Berner Endspiels hingegen bilden bei Weitem nicht das ganze Finale ab. Irgendwann hatte man die kompletten Bänder in den Archiven gelöscht, um Platz zu bekommen, zudem habe Feuerschutz eine Rolle gespielt. Lediglich 18 Minuten des Spiels gab es noch auf offiziellen Bändern. Auch das kaum zu glauben. Zu sehen sind immerhin alle 5 Tore und das Abseitstor von Puskas und einige weitere sehr dramatische Spielszenen.

Vor allem privaten Initiativen wie der des Hamburgers Johann Schlüper ist es zu verdanken, dass über die Jahre weiteres Filmmaterial dazu kam, zum Teil aus Handkameras von Zuschauern des Endspiels gedreht, manche sogar in Farbe. Von einer kompletten Dokumentation des Finales ist man aber bis heute weit entfernt, somit ist auch nach wie vor Zimmermanns Radioreportage eine sehr wertvolle Quelle.

Was wurde aus den Spielern, die das legendäre Endspiel von Bern bestritten hatten? Ungarns Wunderelf zerbrach zwei Jahre nach dem Turnier in der Schweiz und konnte keinen weiteren Anlauf auf den WM-Titel mehr nehmen. Als der Ungarnaufstand 1956 ausbrach, der dann von der Sowjetunion gewaltsam niedergeschlagen worden war, weilte Honved Budapest, das Team war im Grunde identisch mit der Nationalelf, bei einem Europapokalspiel im spanischen Bilbao. Aus Sicherheitsgründen kehrte die Mannschaft nicht zurück nach Ungarn, sondern ging auf eine Gastspieltournee.

Am 7. November 1956 gastierte Honved im Essener Georg-Melches-Stadion und spielte gegen eine Kombi-Elf aus Rot-Weiss Essen und Fortuna Düsseldorf. Im Stadion fanden ca. 45.000 Zuschauer ihren Platz, mehr gingen nicht hinein, einige kletterten die Flutlichtmasten hoch, um überhaupt etwas sehen zu können. Es gab ein spektakuläres 5:5, das keiner der Augenzeugen je vergessen wird. Im Dezember desselben Jahres wurde den Spielern von Honved ein Ultimatum gestellt, binnen 48 Stunden nach Ungarn zurückzukehren. Das taten längst nicht alle. Kocsis und Czibor wechselten nach Barcelona, Weltstar Ferenc Puskas zu Real Madrid. Puskas nahm auch die spanische Staatsbürgerschaft an und machte für seine neue Wahlheimat auch noch Länderspiele.

Heutzutage verhindert ein FIFA-Passus, für mehr als eine Nation Pflichtspiele im Seniorenalter bestreiten zu dürfen. In Ungarn erfolgte ein fluchtbedingter Aderlass des Fußballs, auch viele junge Spieler verließen das Land. Vor dem Endspiel in Bern hatte Ungarn auch schon 1938 in einem WM-Finale gestanden, man unterlag dort Italien. Nun aber stand fest, Ungarns große Zeit als Fußball-Weltmacht endete.

Wie erging es den Helden von Bern? Herbergers Siegermannschaft spielte zuvor nur ein einziges Mal in der „Wunderbesetzung“, beim Halbfinale gegen Österreich zusammen. Nach dem Endspiel jedoch nie wieder und ging sportlich getrennte Wege. Das allerdings gilt für alle deutschen Weltmeistermannschaften nach 1954 auch. Solche Wechselbäder der Gefühle wie die ersten Weltmeister erlebten die späteren jedoch nicht. Die Helden von Bern genossen ihren Triumph zunächst in vollen Zügen, einigen wurde der Rummel aber irgendwann zu viel.

Stürmerlegende Helmut Rahn, der ein Jahr später mit Rot-Weiss Essen auch Deutscher Meister werden sollte, hatte das bis heute wichtigste Tor der deutschen Fußballgeschichte geschossen und genoss und verabscheute seinen Ruhm zugleich. Nach dem WM-Triumph wurde Rahn in Essen ein Empfang bereitet wie einem römischen Imperator nach einem großen Siegeszug. Das muss für einen 25 Jahre alten Bergmannssohn etwas ganz Besonderes gewesen sein.

Der Boss spielte noch gut 10 Jahre weiter und erzielte bei der WM 1958 in Schweden sogar 6 weitere WM-Treffer. In zehn WM-Partien hatte er somit auch zehn Treffer erzielt. Im ewigen Ranking der aller WM-Torschützen belegt Helmut Rahn zusammen mit einigen anderen Akteuren noch immer Platz 8. Im innerdeutschen Ranking liegt Rahn damit gemeinsam mit Thomas Müller auf Platz vier, was die Quote der erzielten Treffer im Vergleich zu den Einsätzen anbelangt, war jedoch nur Bomber Gerd Müller minimal besser als Helmut Rahn. Der Boss war somit ein echter Competition-Typ, der auf dem Platz da war, wenn es drauf ankam. Nach dem Ende seiner Karriere wurde es für ihn aber zunehmend schwerer, den noch immer existierenden Hype um seine Person zu verarbeiten. 

Der eigentlich so volksnahe Rahn tauchte irgendwann komplett ab in die Ruhe des Privatlebens und scheute die Öffentlichkeit. Helmut Rahn starb knapp 50 Jahre nach dem Wunder von Bern am 14.08.2003 nur zwei Tage vor seinem 74. Geburtstag in seiner Heimatstadt. Noch heute pilgern bei jedem Heimspiel von Rot-Weiss Essen Zigtausende Menschen an der Statue des trotz Willi Lippens wohl berühmtesten RWE-Spielers aller Zeiten vorbei. Sie steht mittig auf dem Helmut-Rahn-Platz hinter der „Alten West“ Tribüne. Dort erinnert sie an die noch immer größten Zeiten von RWE, die Fünfziger Jahre. Mittlerweile sind auch alle anderen Helden von Bern verstorben. Der erste Spieler der Mannschaft war Stopper Werner Kohlmeyer, der 1974 kurz vor seinem 50. Geburtstag verstarb. Kohlmeyer war schwer alkoholkrank und konnte nach Ende seiner aktiven Laufbahn im Privatleben nicht mehr Fuß fassen. Im Dezember 2021 ging mit Horst Eckel der letzte Spieler und Benjamin der Berner Mannschaft. Eckel war 1954 mit 22 Jahren Herbergers Jüngster und wurde 89 Jahre alt. Sämtliche Spieler und ihr größter gemeinsamer Triumph werden dem deutschen Fußball-Gedächtnis erhalten bleiben.

Sven Meyering