Was bisher geschah: Hans Rüdiger steckt in der Falle der S04-Walhalla, die ihn opfern wollen, um die Kraft des Bären „Baphomet“ entfalten zu können. Aus diesem Grund muss ein jungfräulicher Knappe her. Acht als Köche getarnte Laiendarsteller sowie ein gefakter Butler haben ihm die Vision vorgegaukelt, Teil des Traumschlosses Löttinghof zu sein, nun ist er im Kerker eben jenes Bauwerkes gefangen. Es ist dunkel und Hans-Rüdiger hat seit einem traumatischen Erlebnis in seiner Kindheit Angst vor der Dunkelheit: Er hatte damals als einziges Ruhrgebietskind wirklich den Bullemann gesehen! Was kann er jetzt noch tun, um einer Schlachtung aus dem Wege zu gehen?

PHASE XIII – Achluphobia

Gleicher Tag, gleiche Stelle – Dunkelheit. Finsternis. Die Abwesenheit von Licht. Es war so finster wie im Stockhaus. Ich hatte Fracksausen. Und ich hörte meine jämmerlichen Schreie durch den Raum schallen. „Hilfe! Hört mich denn niemand? Hilfe, der Bullemann kommt gleich ...“ hatte ich nun bereits zigmal durch den Raum geschrien. Ich bin zu der großen Holztüre gerannt und habe gepoltert, habe geflucht, habe Panik bekommen, doch das alles hat nichts genutzt. „Angst!“ geisterte es durch meinen Kopf! „Bullemann!“ geisterte es durch meinen Kopf. Ja, ich hatte Angst vor ihm, aber das hatte auch seine guten Gründe, denn ich hatte ihn einst gesehen. Meine Eltern wollten mich damals immer maßregeln, wenn ich wieder mal gepopelt hatte oder mit einer Gabel an die Steckdosen hinter dem Fernseher wollte. Dann gab es erst immer einen auf den Arsch und dann sperrte man mich in die Abstellkammer. Ohne Licht und ohne Ablenkung. Ausgesetzt der eigenen Fantasie und der immer weiter wachsenden Panik. Und einmal stand ich in der Abstellkammer, angebunden an den Eisenregalen, als mir der Bullemann tatsächlich begegnete. Ein grauenvolles Erlebnis. Danach war ich in psychologischer Behandlung gewesen und man diagnostizierte mir eine Achluphobie – die Angst vor der Dunkelheit. Ich umging diese Phobie aber in meinem späteren Leben ganz leicht, in dem ich immer mit Fernseher einschlief und auch keinen Timer programmierte. Dunkelheit kannte ich eigentlich nur aus dem Fernseher selber. Durch das Verdrängen der Achluphobie hatte ich hinterher aber „Stromrechnungsphobie“ ...

Ich war nun geschätzte sechs Minuten an diesem dunklen Ort, in diesem einsamen Verließ und jammerte immer noch. „Was bist du nur für ein Waschlappen?“ fragte ich mich selber. „Andere entwickeln in Krisenmomenten übermenschliche Fähigkeiten und du weinst hier vor dich hin und wartest auf dein Schicksal? “ Zunächst einmal galt es, sachlich eine Analyse zu erstellen: ich war in Kerkerhaft, ein nicht zufriedenstellender Zustand für mich. Anders als mir bekannten Kerkern war der Raum hingegen jedoch nicht im Keller, sondern ich befand mich in einem Turm ohne Fenster. Meine Gedanken kreisten immer wieder um die Worte des Butlers. „Du wirst unser Opferlamm sein!“ hatte er mir durch die verschlossene Kerkertüre mitgeteilt. Unverblümt. Allein bei seinem Anblick bekam ich wieder Grauen. Und was hatte denn Kalle da für ein mieses Spiel abgezogen? Mich in eine eiskalte Falle gelockt. Ich schwor mir, sollte ich jemals wieder das Licht der Freiheit erblicken, würde ich ihm sofort und ohne zu zögern ein Mosaik in die Brille zaubern. Auch wenn er schon über 70 und Ilses Onkel war.

Und Ilse? War ihre Liebe nur eine vorgetäuschte? War sie in die fiesen Machenschaften involviert? Wollte man mich aus dem Verkehr ziehen? Wenn ja, wozu? Ich hatte doch niemandem was getan. Ich hatte mich doch nur verliebt und wollte erstmals in meinem Leben einem Menschen zeigen, wie anpassungsfähig ich bin. Ein Chamäleon unter den Lovern wollte ich sein. Ich wollte ihr zeigen, dass ich bereit war, mich für sie zu ändern. Doch sie spielte nur mit meinem Herzen. Das tat mir sehr weh und verursachte eine kleine Träne auf meiner Wange. Auch an ihr würde ich mich rächen. Ich wollte mich ab sofort an dem ganzen Verein rächen. Alle Knappen dieser Erde sollten verdammt sein. Denn alles war nur gelogen! Diese ganze Welt „Schloss Löttingshof“ war möglicherweise nur zum Schein erschaffen worden, um mich her zu lotsen! Ich fragte mich, wer echt und wer falsch war. Wer meinte es gut und wer meinte es böse? Ich war zu differenzieren nicht mehr in der Lage, bemerkte jetzt auch endlich, dass ich mich in einer bedrohlichen Lage befand. Zu spät?

Der Taxifahrer vorhin hatte recht gehabt, ich hatte jetzt überhaupt kein Schutzschild mehr - auch wenn es eine eigenartige Umschreibung war. Immerhin waren meine Kleider fort und mit ihnen auch mein Handy. Meine ganzen Telefonnummern – alle weg! Ich konnte mir doch so gut wie keine Nummern mehr merken, seit dem die Mobilfunkgeräte in mein Leben Einzug gehalten hatten. Doch ich hatte einen klitzekleinen Trumpf im Ärmel: ich hatte einem der Köche, wenn sie denn überhaupt echte gewesen sind, das Smartphone vom Tisch im Aufenthaltsraum gestohlen. Genau in dem Moment, wo sich die ersten beiden zum Dienst verabschiedet hatten, entwendete ich das Gerät. Die Hektik muss man als Langfinger dann und wann ausnutzen. Ferner hatte ich dem Verkäufer in der Boutique auch noch den goldenen Kugelschreiber von der Theke gemopst, doch was sollte ich jetzt mit diesem Teil? Für Wandmalerei – eventuell um meine Geschichte aufzuschreiben – war es zu dunkel und der Kuli auch zu Schade.

Ab und an kam halt noch meine kleptomanische Ader durch, die ich von Oppa Terror – dem ersten Mann von Urgroßmütterchen Lisbeth - geerbt hatte. Er hatte knapp 55 Jahre seines Daseins gesessen, wurde aber stolze 92 Jahre alt. Noch im Altersheim hatte er seine Hände nicht unter Kontrolle und zockte alles ab, was er nur irgendwie gebrauchen konnte. Die Pfleger sahen fairerweise drüber hinweg. Als er gestorben war, fand man in seinem Sekretär sowie unter seinem Bett Ramsch und Utensilien aus 25 Jahren Altersheimgeschichte. Davon sanierte sich die Einrichtung später, in dem man die teilweise recht seltenen Schätze bei aBo-Ey versteigerte. Hinter vorgehaltener Hand wird die Kaiser-Otto-Residenz in Steele seither „Oppa-Terror-Heim“ genannt. Zumindest innerhalb unserer Familie: bei Tante Hille, Onkel Gisbert und Großcousin Hanniball, der ja inzwischen auch nicht mehr in der Metzgerei arbeitete, weil man ihn beim Klauen von Schweineblut erwischt hatte. Auch er hatte das Oppa Terror-Gen in sich. So wie ich ...

Oppa hatte mir immer so viel nützliches gezeigt: den Stadtplan-Trick, den Bettel-Trick sowie den Rempel-Trick in der U-Bahn. Aber nichts von alledem konnte ich jetzt gebrauchen, geschweige denn anwenden. Hier war nichts zum rempeln. Immerhin hatte ich dieses Telefon. Ich wählte die 110, doch es ertönte kein Freizeichen. Ich wählte die 112, doch wieder passierte nichts. Ich wählte eine 0190er Nummer und wollte Renate verlangen, doch auch hier blieb das Telefon stumm. Es ertönte lediglich das akustische Signal, dass kein Netz vorhanden sei. In dem verfluchten Kerker war kein Netz – und das ausgerechnet in meiner lebensbedrohlichen Lage. Wenigstens aber das Akku zeigte noch alle Balken an. Durch das Telefon hatte ich ein wenig Licht in dem Raum und ich begab mich auf geräteinterne Suche. Zunächst einmal durchstöberte ich das fremde Telefon nach Indizien, Nummern und ganz wichtig: den Spielen. Snake war ja da drin. Ich spielte einige Runden und vergaß die Zeit um mich herum. Vielleicht spielte ich eine, möglicherweise sogar zwei Stunden. Ärgerlich war, dass der vorherige Besitzer schon einen guten Rekord vorgelegt hatte, an dem ich partout nicht heran kam. Die anderen Spiele interessierten mich nicht. Nach dieser kurzweiligen Ablenkung begab mich in dem Raum weiter auf die Suche. Vielleicht war irgendetwas hier drin, was mir helfen könnte? Doch schnell musste ich feststellen: der Raum war leer. Nach ersten groben Schätzungen von mir war er in etwa 20 m² groß. Allerdings war er niedriger als andere Räume. Mit meinem 1,81 m konnte ich Problemlos gerade stehen, der Riese von Butler würde hier drinnen allerdings Probleme bekommen, was mir die Idee brachte, in dem Moment wo er sich in dem Raum bücken müsste, direkt den goldenen Kugelschreiber zu benutzen, um zu zu stechen. Ich würde ihm, wenn es denn erforderlich wäre, damit in sein Auge pieken und es ausstechen.

Ich musste jetzt Übermenschliches vollbringen, um frei zu kommen. Um der Sache mit dem Opferlamm aus dem Wege zu gehen. Und ich musste Ideen entwickeln. Schnellstens. Ich hatte doch abertausend Folgen von MacGyver gesehen, der hatte doch immer eine Idee, in jeder Folge. Ich brauchte ja nur eine für diese hier ... zwischenzeitlich blickte ich immer wieder auf das Netzsymbol des Telefons: Null Balken. Dennoch nahm ich mir vor, eine SMS zu schreiben, um sie wenigstens schon mal zu speichern: “Bin hier in der Burg Löttingshof gefangen und werde vermutlich heute Nacht umgebracht werden. Hab nur 160 Zeichen und kein Guthaben mehr. Bitte rette mich Onkel" ... „Eddy müsste da noch rein. Kacke! Ach, das ist ja gar nicht mein Handy! Kannst dann ja sogar umschreiben! „Onkel Eddy. Ich bin gefangen. Im Restaurant von Charlie im Dach in einem Kerker. Hilfe! Gruß Hansi“ Die SMS war jetzt bei weitem nicht mehr so dramatisch, wie der erste Text. Allerdings fiel mir zum Verrecken nicht Eddys Telefonnummer ein, zumal er seit seiner „Selbstständigkeit“ als Betreiber einer Internetseite auch eine neue hatte. Aber was spielte das alles für eine Rolle, wenn ich keinen Empfang hatte? Ich steckte in einer Zwickmühle. Dabei hatte der Tag doch so schön angefangen.

In jedem Winkel der Kammer testete ich, ob ich nicht irgendwie Netz bekommen könnte. Hielt das Handy hoch, ging in die Hocke, legte es auf den Boden, drehte es um 180 ° - doch nichts geschah. Null Balken. „Scheiß moderne Telekommunikation!“ ging es mir durch den Kopf. Ich musste mich jetzt erstmal noch bei einer Runde Snake abreagieren. Rekord wieder nicht geknackt! Als nächstes begab ich mich an die Wände und klopfte sie leise ab. Ich ging einmal rund um und plötzlich ertastete ich eine hohle Stelle in der Wand. Nein, es war nicht hohl, ich bemerkte beim Abklopfen, dass die Wand aus Gipskartonplatten bestand. MacGyver, was würdest du jetzt tun? In meinem Kopf ertönte die Titelmusik der Serie. Dü dü dü düü - dü dü düü. Plötzlich kam mir eine riesige Idee und die Panik wich dem Geiste. Ich nahm meine S04-Krawatte ab, stellte im Telefon wieder das Snake-Spiel (Version ohne Wände, wie passend) ein, welches das Display des Telefons dauerhaft erleuchten ließ. Dann band ich mir die Krawatte um den Kopf und steckte das Handy dahinter. Dadurch hatte ich mir eine eigene Kopflampe gebastelt. Dann nahm ich den goldenen Kugelschreiber, entfernte die Miene und begann mit der Spitze in den Gipskarton zu bohren, so lange, bis ich ein kleines Loch hatte. Jetzt nahm ich meine bloßen Fäuste und stemmte sie gegen die instabile Wand. Ich zupfte die juckende Wolle aus dem Hohlraum der Wand und riss mir kleine Gipsstückchen ab. Ich durfte nur nicht zu laut sein, denn ich wusste ja nicht, was mich auf der anderen Seite erwarten würde! Als das Loch in der Wand groß genug war, riss ich die komplette Wand in Stücke. Ich bemerkte, dass es sich um eine Doppelständerwand handelte. Das ganze Spielchen musste ich demnach noch einmal von vorne betreiben, doch ich musste ja raus hier aus dem dunklen Raum.

Mit Vorsicht und Bedacht brach ich die Stücke aus der Wand und als ich auch in der zweiten Wand ein Loch hatte, blickte ich hindurch. Ich sah S04-Luftballons en masse, daneben waren Löttingshof-Streichholzschachteln in einem Glas und davor waren Blöcke, daneben Büroklammern und anderer Kram. Ganz klar, vor mir lag eine Abstellkammer oder irgendetwas ähnliches. Hoffentlich war das Regal nicht an die Wand geschraubt. Als erstes nahm ich mir die Blöcke und legte sie in die Mitte des Raumes, in dem ich mich nach wie vor befand. Dann nahm ich mir einen Packen Streichhölzer und zündete eines der Hölzer an, entflammte damit den kleinen Papierhaufen vor mir. Und siehe da: es wurde Licht. Mein Herz polterte jetzt nicht mehr so heftig, denn ich hatte wieder etwas Licht. Auch die Snake-Krawattenlampe auf meiner Stirn spendete mir nach wie vor Licht, wenn auch nicht besonders viel, doch es langte aus, um zu sehen, welche Taten ich mit einem Kugelschreiber und meinen blanken Händen vollbracht hatte. Inzwischen roch es im Kerker nach verbranntem Papier. Zum ersten Mal seit meiner unliebsamen Inhaftierung hatte ich keine Angst mehr, ich fühlte mich plötzlich stark. Stark genug, um dem Treiben schnell ein Ende setzen zu können. Ich durfte also keine Zeit verlieren, doch meine Vergnügungssucht forderte ein weiteres Spiel mit der Schlange ein. Und siehe da: diesmal knackte ich den Rekord. Jetzt war das Spiel langweilig und diente ausschließlich nur noch dazu, mir Licht zu spenden.

Jetzt ging es ziemlich rapide. Ich hatte inzwischen ein so großes Loch in der Wand, dass ich auf der anderen Seite im Regal den Ramsch beiseite schieben konnte. Ich arbeitete an meinem Fluchtloch. Ich quetschte mich durch die Gipswand und als ich auf der anderen Seite angekommen war schaltete ich den Lichtschalter ein. Die Helligkeit blendete mich einen kurzen Moment – doch als ich mich an das Licht gewöhnt hatte, begann ich sofort, den Raum zu durchstöbern. Unheimlich viel Kram befand sich in der Kammer, viele Werbeprodukte. Schloss Löttingshof-Serviette, Schloss Löttingshof Gläser! Ach, den ganzen Mist weiter aufzuzählen, macht keinen Sinn. Das Einzige, was mich in dem Raum wirklich mehr als neugierig machte, waren ein paar „Schuhe“ die in der Ecke standen. Es waren gelbe 7-Meilenstiefel bzw. auch bekannt als Flyjumper. Bislang hatte ich von den Teilen nur gehört, wusste aber, dass sie mächtig teuer und inzwischen sehr trendy waren, zudem auch einen hohen Spaßfaktor besitzen sollten. Einmal wollte ich mir solche Dinger mal anziehen und richtig fett bouncen. Kurios – der Abstellraum war höher als der Kerkerraum, so dass ich wohl möglich ein, zwei Mal in der Abstellkammer hüpfen können würde. In dem Raum befand sich auch ein Stuhl, so dass ich mir die Dinger echt problemlos überziehen konnte. Sie waren nicht gerade besonders bequem und jedes mal als ich mich hinstellen wollte, knickte ich ein. Ich versuchte ein paar leichte Sprünge und es war schon beinahe so, als würde ich auf einem Trampolin stehen. Dann flatterte etwas Rauch in meine Nase ...

Inzwischen roch es aus dem Nebenraum mehr als heftig nach verbranntem Plastik und wenige Augenblicke später hörte ich das schrille Pfeifen einer Sirene sowie einen dauerhaft anhaltenden Klingelton. Soeben war der Feuermelder angegangen, und beim Blick durch das Loch stellte ich fest, dass der Boden des „Kerkers“ aus PVC war und inzwischen kokelte. Der Raum nebenan brannte ab. Verdammt, jetzt hatte ich noch mal einen ganzen Batzen an Problemen hinzu bekommen. Mir die Schuhe auszuziehen, dafür hatte ich jetzt keine Zeit mehr. Ich hatte ja noch nicht mal geprüft, ob die Kammer abgeriegelt war. Jetzt wurde es an der Zeit, ich musste schleunigst fliehen. Die Sirenen heulten permanent weiter. Die Türe war natürlich verriegelt und mit den Schuhen unter mir konnte ich sie nicht eintreten, wer weiß, ob ich es denn ohne Flyjumper geschafft hätte. Ich nahm mir aus einem Glas eine Büroklammer und versuchte wie MacGyver die Türe zu knacken, allerdings ohne Erfolg. Wenige Sekunden später hörte ich schon die ersten Schritte im Gang draußen. Erst ganz leise, dann immer lauter. Dann vernahm ich Stimmen „Ich hab dir doch gesagt, du sollst ihn filzen und wirklich alles abnehmen, warum hast du das nicht gemacht?“ hörte ich eine mir unbekannte Stimme sagen. Dann die tiefe Stimme des „Butlers“: „Tut mir leid, mein Sonnenkönig, er war sehr ungehalten und ich musste ihn schon mit letzter Kraft in das Verließ schieben. Abgesehen davon hat er all sein Hab und Gut in der Boutique gelassen, wie man mir berichtete und es auch befohlen war.“ Die Schritte gingen jetzt genau an meiner Türe vorbei. Mein Herz schlug schneller und lauter denn je. Ich musste weg. Mit meinem Ellbogen wuchtete ich einmal fest gegen die Tür der Abstellkammer und wie durch ein Wunder ging sie tatsächlich auf! Wackelig wie Pudding auf den Beinen begab ich mich in gebückter Haltung nach draußen.

Im Gang konnte ich halbwegs normal stehen. Dann sah ich nach rechts und entdeckte in ca. fünf Meter Abstand die beiden Personen. Den einen hatte ich irgendwo schon mal gesehen, doch es wollte mir nicht einfallen woher, der andere war Kurt. Sie standen genau vor der Eingangstür des Kerkerraumes, wo man mich eingesperrt hatte. Der Butler hatte ein Messer in der Hand und zu meiner Verwunderung hatten mich beide hatten noch nicht entdeckt, zu sehr waren sie auf sich selbst fixiert. Sie klopften von Außen an die Türe. „Hans-Rüdiger, du dummer Heckenpenner, was hast du da drin getrieben?“ fragte Kurt gegen die Holztüre und der andere zog einen Schlüssel aus der Tasche. Es wäre jetzt die ideale Gelegenheit gewesen, auf Zehnspitzen rückwärts den Gang herunter zu tippeln, doch ich hatte ja die Flyjumper umgeschnallt. Nie zuvor war ich mit Siebenmeilenstiefeln gelaufen. Jetzt mussten diese Dinger herhalten und mir zur Flucht verhelfen. Ohne mich auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken zu befassen, was passieren würde, wenn ich hinfallen würde, begab ich mich langsam aber sicher in Bewegung. Ich drückte mich vom Boden ab. Und langsam ist hier eigentlich das falsche Wort, denn urplötzlich machte ich einen riesigen Satz und war mindestens vier Meter weit geflogen. „WAHNSINN!“ geisterte es sofort durch meinen Kopf. Trotz der sehr angespannten und ungewissen Situation keimte ein Funken Euphorie in mir auf.

Ich landete auf dem linken Bein und stieß mich gleich wieder vom Boden ab, wodurch ich einen weiteren Satz von einigen Metern machte. Zwei Schritte für mich brachten mich gefühlte zehn Meter vorwärts. Und das binnen einer Sekunde. Jetzt hatten sie mich bemerkt. Der eine schrie. „Da ist er. Los, er darf nicht entkommen, sonst können wir die Zeremonie heute Nacht abblasen.“ Beide setzen sich in Bewegung und rannten los. „Es hat keinen Sinn zu fliehen, Hans-Rüdiger. Du bist der Auserwählte. Du rettest den FC Schalke 04 von seinem tristen Dasein ohne Meisterschaftstitel. Du wirst Baphomets Opfer.“ stammelte der mir unbekannte, leicht korpulente Typ mit braunem Haar und Teint. Ich rannte mit den Schuhen so schnell den Gang herunter, dass ich sie sehr rasch abgehängt hatte. Dann folgten die Treppen, die ich ebenso in Windeseile herunter „jumpte“. Zwischendurch war ich sehr wackelig auf den Beinen, doch eigentlich war es echt mächtig geil, mit den Teilen zu laufen. Sehr schnell war ich in der großen, menschenleeren Lobby. Ich warf einen Blick auf das Handy, wählte die Nummer von Onkel Eddie zu Hause. Das einzige was mir in dem Moment einfiel. Ich betete innerlich, ob er denn da sei. Dann ging der Anrufbeantworter ran. „Eddy, wenn ich in einer Stunden nicht da bin, dann musst du mich hier aus dem Schloss von Charlie befreien. Die haben irgendwas mit mir vor ...“. Wenigstens hatte ich schon mal eine Information an ihn richten können. Dann wählte ich den Notruf. Jetzt würde ich es dieser Sippschaft ein für alle mal zeigen. Durch das Gebäude schallten alsgleich Rufe. „Haltet ihn, so haltet ihn auf, er darf nicht entkommen!“ Doch niemand war da, der mich hätte aufhalten können. Meine Freiheit war nun noch eine einzige Türe entfernt.

Ich ging zur Eingangstüre des Schlosses und drückte sie mit dem Handy am Ohr auf, am anderen Ende ertönte ein Freizeichen. Als ich die Türe geöffnet hatte, standen urplötzlich Ilse, Charlie und Huub vor mir. Wie aus dem Nichts. Es dämmerte bereits. Ilse und Charlie waren umarmt, wirkten wie ein Paar. Ich bekam einen kompletten Schock. Jetzt war es wie in einem Alptraum, wo man versucht vor dem Bösen weg zu rennen, aber nicht vorwärts kommt. Hatte ich mir vorher noch vorgenommen, Charlie bei nächst bester Gelegenheit eine über zu ziehen, so war ich nun wie gelähmt und konnte nichts tun. Dann hob am anderen Ende des Handys jemand ab. „Polizei Gelsenkirchen, guten Abend. Wie können wir helfen?“ - „Kommen sie schnell, bitte ...“ schrie ich in das Telefon. Und ehe ich mich versah, hatte Ilse mir ihre Handtasche übergezogen und schrie laut. „Du wolltest dich doch wohl nicht aus dem Staub machen, so kurz vor dem Ziel, oder?“ waren die letzten Worte, die ich hörte. Ich wurde bewusstlos und um mich herum wurde es düster. Das letzte was ich vernahm, war das Bellen des Hundes.


(fsl)