Dabros wildes Kettengerassel – Aus Drei mach Vier und umgekehrt
Wie in Teil 1 dargestellt, war Essens personeller Aderlass gewaltig und die Reinvestitionen nicht auf dem Niveau der Abgänge. Dabro wollte aber die DNA seines Spielsystems dennoch nicht opfern und setzte weiterhin auf riskante Spieleröffnungen und Lösungen mit dem Ball. Zu Saisonbeginn proklamierte Dabrowski ein System mit einer Dreierkette. Der Trainer sah mit Rios Alonso, Michael Schultz und Tobias Kraulich seine drei Innenverteidiger als zu gut an, um einen davon auf die Bank zu setzen. Zudem wollte man aktiven Ballbesitzfußball spielen, der Essen im Vorjahr lange Zeit im Aufstiegsrennen gehalten hatte. Premierengegner Alemannia Aachen spuckte in die rot-weisse Suppe, stellte einfach vorne alles zu und wartete auf Essener Fehler, die kamen. Das 1:2 zum Auftakt im Westderby war ein herber Dämpfer.
So wechselte RWE bereits beim kommenden Auswärtssieg bei Hannover 96 II (3:1) zurück auf die Viererkette. Jedoch musste man auch einräumen, dass auch die jungen 96er bei einer Vielzahl von Chancen und geringer Mittelfeldpräsenz der Essener das Match hätten ziehen können. Mit wechselnder Dreier- bzw. Viererkette ging es in den folgenden Wochen weiter. Die Vorwürfe an den Trainer, häufig sein System zu wechseln und der Mannschaft bislang so keine kontinuierliche Stabilität gegeben zu haben, treffen somit zum Teil zu. Wirklich erfolgreiche und gute Auftritte legte RWE vor allem im System der Dreierkette hin, exemplarisch genannt seien der Erfolg gegen den BVB II (3:1) oder das 2:1 über Viktoria Köln, als Essen nach dem Wechsel auf Dreierkette zur Halbzeit deutlich besser ins Spiel kam.
Was fehlte zwischenzeitlich, um die eigentlich gewünschte Taktik durchzuziehen? Die neu formierte RWE-Abwehr ist ein Grund dafür. Zum einen war mit Tobi Kraulich ein als Eckpfeiler verpflichteter Spieler in den ersten Wochen noch lange nicht auf der Höhe seines Leistungsvermögens. Kraulich war in der Hinrunde der Vorsaison eine Säule beim Aufstiegsaspiranten Dynamo Dresden, er machte aber nur 13 Saisonspiele, bis ihn Verletzungsprobleme bremsten. Wie wertvoll Kraulich bis dato für Dynamo gewesen war, zeigte die Zeit ohne ihn. Dresden verlor deutlich an defensiver Stabilität. Deswegen wollte man sich auch an der Elbe nicht zwingend von Kraulich trennen und hätte ihn auch weiterverpflichtet.
Dennoch war seine Verletzten-Vita eine Hypothek. Essens sportlicher Leiter Marcus Steegmann wird das gemeint haben, als er bei Kraulichs Verpflichtung davon sprach, dass er mittelfristig eine Verstärkung für RWE werde. Da runzelte der Essener Anhang die Stirn, denn natürlich wünschte man sich das bereits kurzfristig, und zwar zu Saisonstart. Der verlief auch für Kraulich holprig. Mittlerweile hat sich der 1,91 Meter große Innenverteidiger gefunden und deutet mehr als an, welche Verstärkung er auf Strecke für RWE sein kann. Relativ hoch zu verteidigen und damit dem Gegner viel Raum zu geben schien auch auf Neuzugang und Kapitän Michael Schultz nicht wirklich zugeschnitten. Mit seinen 1,94 Meter ist Schultz kein Spieler, der einen enteilenden Gegner noch stellen kann. Dennoch wählte Essen häufig mit dem Ball die Flucht nach vorne, so gesehen in Unterhaching, als RWE sich abmühte das Match zu machen und die Gastgeber mit einfachen Mitteln die entscheidenden Tore machten.
Es schien zudem so, als könnte der Coach auch noch nicht vollends einschätzen, was seine neu formierte Truppe zu leisten im Stande ist. Die bereits angesprochenen relativ häufigen Systemwechsel von einer Dreier- auf eine Viererkette und zurück zeugten von einer bis zuletzt andauernden Findungsphase, zusätzlich erschwert durch häufig notwendige Personalwechsel durch Verletzungen. Aber auch durch Sperren, die man sich mittels Disziplinlosigkeiten einhandelte. Der Kommentar zur 1860-Schlappe, Dabros letztem Auftritt, legt sehr deutlich den Finger in die Wunde, was die Mannschaft vermissen ließ.
Zudem wirkte es erstaunlich, dass Essen sich zwar vor allem mit schnellen Außenstürmern verstärkte, neben Safi und Owusu auch noch mit Boyamba und Berisha, aber deren Stärken im Umschaltspiel irgendwo raus zu nehmen, weil man selbst zu viel mit der Kugel machen wollte. Hier ist erneut die sportliche Leitung um Marcus Steegmann und Christian Flüthmann mit im Boot, die den Kader nicht unbedingt zugeschnitten auf die Anforderungen des Ballbesitzfußballs zusammenstellte. Eine taktische 180 Grad Wende vollzog RWE beim erfolgreichen Cottbus-Match, als der Tabellenführer mit 4:0 aus dem Stadion geschossen wurde. Essen igelte sich ein, ließ die Lausitzer machen und spielte zudem lang und hoch statt kurz und flach. Cottbus gelangen zwangsläufig keine Ballgewinne in einer für RWE gefährlichen Zone. Ein schlichtes Mittel, was aber zum Beispiel Alemannia Aachens Taktik komplett aus den Angeln gehoben hätte. Den Gegner aufzufordern, das Match auch an der Hafenstraße zu machen, wertete Cottbus als Essener Angst und ging bereitwillig in die Falle.
Sehr hoch stehend fanden die Gäste nicht ins defensive Gegenpressing, nachdem sie sich im engmaschigen RWE-Netz verfangen und die Kugel verloren hatten. Ein Festessen für die rot-weissen Turbospieler Safi und Owusu, die dann viel grüne Wiese vor sich hatten. Christoph Dabrowski brach also in diesem Match brachial mit seinem eigentlich dogmatischen System des kontrollierten Aufbauspiels und erzielte damit den größten Erfolg der Saison. Die Horror-Bilanz der englischen Woche mit nur einem Punkt aus den Partien in Dresden und Rostock sowie Verl signalisierten den Handlungsbedarf. Die Abkehr vom Ballbesitzfußball und langem hintenherum kombinieren hin zum einfachen Fußball mit langen Schlägen von Keeper Jakob Golz sowie überfallartigen Umschaltspiel nach Ballgewinn über die pfeilschnellen Safi und Owusu waren für die Partie gegen die sichtbar überraschten Cottbuser das probate Mittel.
Das konnte jedoch nicht immer klappen. In den vier Spielen danach (1:2 in Aue, 1:1 gegen Sandhausen, 0:1 in Saarbrücken und nun 0:3 gegen 1860) gab es erneut katastrophale Ergebnisse, die Dabro dann den Kopf kosteten. In Aue besiegte Essen sich selbst, kassierte zwei dumme Gegentore und vergab beste eigene Gelegenheiten. Gegen Sandhausen lag man durch einen erneut selbst verschuldeten Treffer nach 40 Sekunden hinten, zeigte aber große Moral und rettete nicht nur einen Punkt, sondern hatte die Spitzenmannschaft aus der Kurpfalz am Rande der Niederlage. Ein Match wie beim 1. FC Saarbrücken verliert man nur und vor allem nur auf diese Weise, wenn man unten steht.
Im Grunde war es ein typisches 0:0-Spiel, Essen hatte zwar selbst kaum Chancen, verteidigte aber stark. Bis auf eine Situation. Ein ungefährlicher Schlenzer in die rot-weisse Box fand den Kopf von Tobi Kraulich, der unglücklich ins eigene Tor köpfte. Hier hatte man einfach nur die Scheiße am Schuh. Das Match gegen 1860 München war dann allerdings Essen schwächster Heimauftritt. Das über Wochen und Monate geduldige Publikum wurde bitter enttäuscht. Die Verunsicherung war allenthalben auf dem Platz zu spüren. Ein leb- und mutloser RWE-Auftritt mit hoher Fehlerintensität brach das Band mit den Fans.
Wer über lange Zeit den Fußballsport verfolgt, kennt diese Muster. Eine Mannschaft liefert im Grunde über längere Zeit Leistungen, die unter dem Strich okay sind, aber es fehlen die Ergebnisse. Die Zweifel steigen, Ergebnisse fehlen weiter, die Leistungen wackeln, bis am Ende der Negativspirale auf dem Feld nichts mehr zusammenpasst und man die Tabelle nur noch lesen möchte, wenn man diese auf den Kopf stellt. Dann greifen die Mechanismen des Profifußballs.
Lange hat man bei RWE diesen Trend nicht wirklich ernst genommen. Das Wort Abstiegskampf war tabu. Auch für Christoph Dabrowski selber, der noch vor dem desaströsen Auftritt seiner Mannschaft gegen 1860 auf der Pressekonferenz fast gelöst und optimistisch wirkte. Möglicherweise hat Dabro zu diesem Zeitpunkt wirklich noch geglaubt, das Ruder herumreißen zu können. So, wie es ihm in den Vorjahren schon zweimal in prekärer Lage gelungen war. Eine weitere Chance, seine Resilienz unter Beweis zu stellen, erhielt der Coach nun nicht mehr. Ob es ihm andernfalls gelungen wäre, ist Kaffeesatzleserei.
Im RWE-Umfeld sieht man in Dabro jedoch nicht den Hauptschuldigen für die Misere. Bei einer Online-Umfrage der Funke-Medien Gruppe, die über 5000 Mal angeklickt worden ist, stimmten fast unglaublich zu nennende 79,2 % der User dafür, dass Dabros Demission eine Fehlentscheidung darstellt. Das ist auch Ausdruck des menschlichen Respekts, den sich Christoph Dabrowski erworben hat. Und auch ein Beleg dafür, dass die RWE-Familie durchaus ein Näschen dafür hat, dass der Hase auch woanders im Verein gehörig im Pfeffer liegt.
Trainer-Schleudersitz Hafenstraße 97 A – Oder wie geht der Verein mit seinen Trainern um?
In der Causa Christoph Dabrowski trifft der schon in Teil 1 zitierte Fußball-Aphorismus, der Trainer ist immer das schwächste Glied, den Nagel präzise auf den Kopf. Denn obwohl Dabro natürlich nicht unschuldig ist an der Negativentwicklung und von seiner neu formierten Mannschaft in Teilen taktisch mehr verlangte als sie leisten konnte und sehr viel systemisch und personell rochierte, wo Konstanz manchmal klüger gewesen wäre, steht der Coach nur am Ende der Fehlerkette.
Ihm vorgeordnet ist eine sportliche Leitung, die einen Kader zusammenstellte, der nicht den formulierten Ambitionen gerecht wird. Diese wiederum hatte in der heißen Phase der Saisonplanung das Handicap, dass der Essener Aufsichtsrat in Sachen Personal-Budgetierung sehr konservativ und zögerlich war, was Christian Flüthmann und Marcus Steegmann den Job nicht erleichterte. Der neue Vorstandschef Marc-Nicolai Pfeifer muss sich diese Dinge nicht ans Revers heften, er stieg erst später beim Verein ein. Seine Bewertung der Dabrowski-Entlassung als „unausweichlich“ darf jedoch sehr kritisch hinterfragt werden. Rückendeckung für ins Straucheln geratene Trainer ist im Essener Norden traditionell eher selten. Schaut man nur einmal in die jüngere RWE-Geschichte, erkennt man schnell, dass dieser Job ein Schleudersitz ist. Im Frühjahr 2020 setzte RWE Christian Titz nach nur 8 Monaten faktisch vor die Tür, nur noch eine Zeit lang von der Corona-Zwangspause verschleiert, und zwar hauptsächlich, weil Titz sich mit dem damaligen Sportlichen Leiter Jörn Nowak überworfen hatte. Titz übernahm später den Zweitligisten Magdeburg in Abstiegsgefahr, hielt die Klasse und formte seitdem ein Spitzenteam, das Richtung Bundesliga schielen darf.
Nachfolger Christian Neidhart wurde als Mann der Rekorde bei RWE gefeuert. Zwei Spieltage vor Ende der Saison 2021/2022 sollten Jörn Nowak und Vincent Wagner die Aufstiegsfeuerwehrleute spielen. Ein sehr riskantes Manöver, das unter dem Strich aber gelang. Zimperlich geht man nicht um mit seinen Trainern in Essen. Lange Zeit auch Marcus Uhlig nicht. Wie in Teil 1 geschildert, zahlte sich aber dann das Vertrauen in Christoph Dabrowski in seiner ersten großen RWE-Krise aus, denn Dabro zahlte fast mit dem Zweitligaaufstieg zurück. Als man seinen Vertrag vor der Saison um 2 Jahre verlängerte, waren noch offiziell alle voll des Lobes bei RWE.
Dem Trainer wurden auch vom Aufsichtsrat beste öffentliche Zeugnisse ausgestellt, nun ist das alles Makulatur und man redet auch intern mit einem Male ganz anders über Christoph Dabrowski. Hat sich dieser denn so völlig zu seinem Nachteil verändert oder ist es einmal mehr einfacher, den Kopf eines Trainers rollen zu lassen, bevor man eigene Fehler eingesteht? Letzteres ist den Weisen des Aufsichtsrates ohnehin ein Tabu, wie der katastrophale Auftritt bei der letzten Jahreshauptversammlung aufzeigte.
Rückenwind verwandelt sich in Essen schnell in Gegenwind. Im Verein herrscht spürbar eine Unkultur des Gegeneinanders und nicht des notwendigen Miteinanders, was umgekehrt allerdings stetig aus dem Inneren heraus von der Fanszene eingefordert wird. So etablieren sich immer mehr Strukturen im Klub, die es jedem Trainer erschweren, auf Langzeit erfolgreich arbeiten zu können.
Die aufgezählten Hypotheken werden auch Christoph Dabrowskis Nachfolger betreffen. Ob das der namhaft zu nennende Markus Kauczinski oder doch jemand anderes wird, ändert an der schwierigen Grundkonstellation jedenfalls nichts. Viel eher wird der Trainerwechsel natürlich finanzielle Ressourcen erschöpfen, die anderswo bei der notwendigen Nachjustierung des Kaders fehlen werden. Dem künftigen RWE-Coach wünschen wir schon in unserem ureigenen Interesse alles Gute für die Mission Klassenerhalt. Alles andere wirkt vermessen. Gelänge dieser nicht, wäre der Trainerrauswurf nur eine teure Platzpatrone der Essener Verantwortlichen. Das kann nur die Zukunft zeigen. Christoph Dabrowski sagen wir aus vollem Herzen: Danke, Dabro und alles erdenklich Gute für deine Zukunft!
NUR DER RWE!
Sven Meyering