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Kasachstan & Kirgisistan: Fußball, Kok Boru und paradiesische Natur

Intensive Tage in Zentralasien. Über imposante Natur, sportliche Bekanntschaften beim Fußball, den Kampf um einen Ziegenkadaver, über Schusswaffengeschäfte in der Wechselstube und eine Airline, die zum Kotzen ist.

Bericht

Intensive Tage in Zentralasien. Über imposante Natur, sportliche Bekanntschaften beim Fußball, den Kampf um einen Ziegenkadaver, über Schusswaffengeschäfte in der Wechselstube und eine Airline, die zum Kotzen ist.

In weiser Voraussicht, dass RWE – der Vorvorletzte der Hinrunde – als Rückrundenzweiter noch einen entspannten Ausklang der Saison 24/25 haben würde, schossen wir – ein als Wumme bekannter Hafensänger und meine Wenigkeit – für das Osterwochenende zwei absolute Schnäppchenflüge nach Zentralasien. Während die Flugpreise in der gesamten Vorplanung stets zwischen 550 und 700 € lagen, zeigte Skyscanner Anfang Februar plötzlich einen Preis von 260 € an, um mit einem Umstieg in Ankara von Köln nach Almaty zu kommen. Die türkische Billigairline AJet war zwar bis dahin noch gänzlich unbekannt, was aber in Deutschland starten und landen dürfte, konnte ja nicht so verkehrt sein.

Die Erfahrungsberichte allerdings, die selbstverständlich erst nach der Buchung gelesen wurden, ließen Böses ahnen. Es hatte immerhin drei Tage gedauert, bis eine Flugänderung reinflatterte und aus einer entspannten Rückreise einen 26-stündigen Höllentrip mit drei Flügen machte. Zwischen den Flügen waren einmal 6 Stunden und einmal 3 Stunden totzuschlagen. Diverse Probleme im Flight Management der AJet-Website und beim Online-Check-in machten mich bis Mitte April zum Dauergast in der immerhin deutschsprachigen Kundenhotline.

Trotz der düsteren Vorzeichen, verlief die Hinreise recht problemlos. Eine Stunde Verspätung bei zweistündiger Umsteigezeit waren zu verkraften. 15 € für eine Flasche Bier am Flughafen in Ankara hingegen inakzeptabel. Zur Hälfte des Preises bescherte das Angebot des Tages immerhin zwei in Aluminium gepresste Longdrinks. Gin Tonic und Whisky-Cola halfen jedoch nur bedingt als Einschlafhilfen auf dem Nachtflug, so dass wir schwer gerädert um 7 Uhr morgens in Kasachstan landeten. Die Zeitverschiebung hatte uns drei weitere Stunden der Nacht geklaut.

Der Geldwechsel (1 € = 583 KZT) konnte ohne große Verluste am Flughafen vorgenommen werden. Für eine SIM-Karte wurden ca. 9 € fällig, bevor mit Yandex – dem Pendant zu Uber in diesen Breitengraden – ein Taxi zur Unterkunft gebucht wurde. Für die halbstündige Fahrt wurden knapp 5 € abgerufen. Bei diesen Preisen war das Taxi selbstverständlich das meistgenutzte Fortbewegungsmittel in den nächsten Tagen. Etwas unfreiwillig auch über längere Distanzen.

In der mit Airbnb gebuchten Bleibe angekommen, zog es Wumme zunächst ins Bad. Die schwerfällige Tür ließ sich allerdings nur mit Einsatz von erhöhter Muskelkraft zuziehen, was zur Folge hatte, dass auf der anderen Seite des Apartments der Sicherungskasten auseinanderfiel. Eine weitere Besonderheit war die Toilettenspülung, die mit der Lautstärke eines startenden Airbus A380 konkurrierte.

Hoch im Transili-Alatau-Gebirge: Medeo und Shymbulak 

Nach kurzer Erfrischungskur steuerten wir das erste Ziel des Tages an: Shymbulak, das größte Skigebiet Zentralasiens. Nahe der Gondelstation und umgeben vom Transili-Alatau-Gebirge steht hier das Medeo-Eisstadion, in dem schon viele internationale Wettbewerbe ausgetragen wurden. 1970 wurde es von einer Schlammlawine verschüttet und zwei Jahre später infolgedessen der Medeo-Damm fertiggestellt. Von der Gondel aus lassen sich beide Bauwerke wunderbar von oben betrachten.

Medeo-Eisstadion

Nach zwei Umstiegen und drei Gondelfahrten erreichten wir auf 3156 Metern endlich die höchste Ebene und stapften mit kurzer Hose und T-Shirt durch den Schnee. Die Sonne ermöglichte uns eine prächtige Aussicht auf die vielen Berggipfel des Skigebiets und hinab auf die größte Stadt Kasachstans.

In kurzer Hose durch das Skigebiet

Almaty selbst ist nicht unbedingt reich an großen Sehenswürdigkeiten. Die Christi-Himmelfahrt-Kathedrale ist ganz nett anzuschauen, genauso wie das Treiben auf dem mit Tauben übersäten Vorplatz. Wer neue Klamotten, allerlei Gewürze, Trockenfrüchte, einen Kringel Pferdewurst oder einen abgetrennten Schweinekopf kaufen möchte, ist auf dem Kök Bazaar, dem Grünen Basar, an der richtigen Adresse. Hier lässt es sich auch gut und günstig speisen: Für zwei Teller Pilaw, einem Reisgericht mit Fleisch, sowie zwei Getränken, wurden insgesamt nur 8 € fällig. Liebhabern des architektonischen Brutalismus empfiehlt es sich, einfach durch die Straßen der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans zu streifen, um auf seine Kosten zu kommen.

Die Christi-Himmelfahrt-Kathedrale

Länderpunkt Kasachstan

Für 16 Uhr stand das Spiel des Tages auf dem Plan. Das Zugpferd der Stadt, Kairat Almaty, hatte leider schon am Vorabend gespielt. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass der Verein sich wenige Monate später gegen Celtic Glasgow durchsetzen und erstmals für die Champions League qualifizieren würde. So durfte sich unter anderem Real Madrid auf eine Anreise von 6.412 Kilometern freuen. Wir hingegen mussten uns mit der Nachwuchsabteilung des amtierenden Meisters zufriedengeben, die immerhin in der 2. Liga spielt.

Länderpunkt Kasachstan im Stadïon Akademïï T.S. Segïzbaeva

Bei freiem Eintritt fanden sich 300 Zuschauer zum „Derby“ gegen FC Khan Tengri ein. Das Stadïon Akademïï T.S. Segïzbaeva konnte mit einer kleinen, aber feinen Tribüne und einem traumhaften Bergpanorama punkten. Vor dieser Kulisse versuchten sechs Knaben mit Zaunfahne, Trommel und Gesang etwas Leben in die Hütte zu kriegen. Für mehr Erheiterung sorgte jedoch ein aufgebrezeltes Mädel auf der Tribüne, das frühzeitig als Spielerfrau ausgemacht wurde. Der Verdacht erhärtete sich, als der Kairat-Torwart nach einem Zusammenprall behandelt werden musste. Sicherlich kein Akt aus der Mitch-Kniat-Schauspielschule, aber gute Überlebenschancen hatten wir aus der Entfernung eingeräumt. Die besagte Dame war derweil auf der Tribüne völlig in Tränen aus- und fast zusammengebrochen. Nur ihre Stöckelschuhe verhinderten es, schnell genug auf den Platz zu kommen, bevor der Göttergatte wieder auf den Beinen war und den 2:1-Sieg sogar noch auf dem Feld miterleben konnte.

Nach Abpfiff ging es zügig ins Taxi, wo uns der Fahrer schneller als Deutsche identifizieren konnte als wir das Stadionmodel als Spielerfrau. Wir hatten uns mit der Nutzung der Anschnallgurte leichtfertig verraten. Nach ein paar Absackern in den nahgelegenen Pubs, rief eine Weile nach Mitternacht endlich die Pofe. Wir hatten schließlich eine schlaflose Nacht im Flugzeug hinter uns und mussten die Akkus erstmal wieder richtig aufladen. Folgerichtig klingelte also erst um 3:30 Uhr der Wecker, um eine 17-stündige Tagestour anzutreten.

Holprige Anreise zu Kaindy- und Kolsai-See

Eine Stunde später erreichten wir pünktlich den von Panda Travel ausgerufenen Treffpunkt, wo uns ein komfortabler Bus mit 14 Sitzplätzen erwartete. Neben einem Italiener und einem weiteren Deutschen, machten sich noch 10 Fahrgäste aus Indien mit uns auf die Reise. Die ersten zweieinhalb Stunden durch die Prärie waren recht unspektakulär und gut passierbar, bevor die Busfahrt holpriger wurde und es teilweise schon über unbefestigte Straßen ging. Mal etwas Tempo rauszunehmen, sah der Busfahrer allerdings nicht ein. Und so ging die gesamte Besatzung bei jedem Schlagloch komplett aus dem Sattel. Teilweise dermaßen katapultartig, dass sich ein paar Leute mit ungünstigen Plätzen, unter anderem meine Wenigkeit, ordentlich die Rübe stießen. Der zweite Dampfhammer auf den Schädel ließ dann sogar die indischen Mitfahrer zum Anschnallgurt greifen.

Abenteuerreisen mit Panda Travel

Im Nachhinein muss diese Etappe allerdings als Kindergeburtstag eingestuft werden. Denn nach der drei stündigen Fahrt an den Rand des Kungej-Alatau-Gebirges, waren wir noch nicht am Ziel. Da die letzten 30 Minuten durch sehr unwegsames Gelände führten, musste die ganze Besatzung nun in einen KAvZ-Bus aus Sowjetzeiten umsteigen. Ein traumhaft-trauriger Trümmerhaufen auf Rädern. Von Straßen, über die unser Weg führte, konnte keine Rede mehr sein. Der Bus fuhr nicht über Stock und Stein, sondern über Geröll. Wir kreuzten Bachläufe und gerieten an den Abhängen immer wieder in bedenkliche Schieflagen. Alles wackelte, wie in einem Flugsimulator. Und es machte mindestens genauso viel Spaß. Ein 30-minütiger von Schreckmomenten durchzogener Lachkrampf. Es lässt sich wirklich kaum beschreiben, wie sehr man auf dieser Fahrt durchgeschüttelt und im Bus herumgeschleudert wurde. Anschnallgurte hatte die Karre vermutlich nicht mal ab Werk.

Während Katy Perry für astronomische Summen zehn Minuten ins Weltall fliegt, konnten wir jedenfalls für gerade mal 50 € unzählige Momente der Schwerelosigkeit erleben. Die Buckelpiste ließ uns und unsere indischen Sitznachbarinnen dabei nicht nur symbolisch zusammenrücken, so dass wir fortan zwei Begleiterinnen an unseren Fersen hatten.

Nach überstandener Fahrt waren nur noch 30 Minuten zu Fuß durchs Gebirge zu wandern, um den mystischen Kaindy-See zu erreichen. Eine unberührte Farbenpracht mit der Besonderheit, dass abgestorbene Baumstämme aus dem klaren Wasser emporragen. Das Schauspiel ist ein Resultat der Entstehung des Sees, der sich 1911 durch ein Erdbeben aufgestaut hat.

Der Kaindy-See

Nachdem sich Wumme noch ganz dezent mit einem traditionellen Mantel, dem Tschapan, einer Fuchsfellmütze und einem Adler auf Faust hat ablichten lassen, ging es über die Buckelpiste weiter zum Kolsai-See. Dieser Teil des Nationalparks, der für seine Bärenpopulation im Hinterland bekannt ist, wird in erhöhter Position angefahren. Das eröffnete uns eine wunderbare Aussicht von oben. Nach einem kurzen, aber steilen Abstieg, lässt sich der See auch aus nächster Nähe betrachten. Uns verschlägt es schnell wieder nach oben, um die begrenzte Aufenthaltszeit noch für einen Besuch im örtlichen Tante-Emma-Laden zu nutzen. Unsere Wahl dort fällt auf zwei wuchtige 0,65l-Bierflaschen mit einem Walfisch auf dem Etikett. Der dicke „кит“ -Schriftzug ließ sich tatsächlich schnell mit „Wal“ übersetzen. In den kleineren Texten steht irgendwas von Käse, behauptet der Google Übersetzer. Muss falsch sein, dachten wir, bis die Verkäuferin uns ein bröseliges Stück Käse in die Hand drückte und aufforderte, es zusammen mit dem Bier zu probieren. Die Walbrause brachte den Käse auf der Zunge ordentlich zum Schäumen und verschaffte so ein vollmundiges Geschmackserlebnis. Sehr herzhaft, hatte was!


Kulinarische Köstlichkeiten in der Jurte

Das nächste Ziel unserer Reisegruppe war eine Jurte in einem kleinen Dorf, das auf der Strecke lag. Nachdem sich alle ihrer Schuhe entledigt und auf dem Teppichboden Platz genommen hatten, wurde gemeinschaftlich gefuttert. Der einzige Deutsche mit uns, ein Reisender aus Hannover, nutzte die Gelegenheit, sein Leid über AJet zu klagen. Auch er hatte mit kuriosen Umbuchungen zu kämpfen und allem voran das Problem, dass sein Rückflug nicht mehr im Flight Management der Airline auftauchte. Ein weiterer Dauergast in der Hotline dieser ominösen Fluglinie, dessen Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist.

Gastfreundschaft in der Jurte

Offen blieb auch die exklusive Toilette neben der Jurte, die ohne Schloss auskam. Und allem anderen, was man sich in einer Toilette wünscht. Der Innenarchitekt des kleinen Gemäuers hatte sich auf ein kleines Loch im Steinboden beschränkt.

Das nächste Highlight der Tour war der Charyn Canyon, der kleine Bruder des amerikanisches Grand Canyons. Zunächst wurde an der tiefsten Stelle der imposanten Schlucht, dem Black Canyon, ein kurzer Zwischenstopp gemacht. 300 Meter Höhe haben die Klippen an der Stelle. Unten fließt ein reißender Fluss, der aus der Entfernung nur wie ein Rinnsal aussieht. Die Felswände sind schwarz durchsetzt, während das Wasser in der Schlucht grün schimmert. Genauso wie die paar Sträucher, die in der Ödnis zu Leben gefunden haben und das Ufer begrünen.

Atemberaubende Natur: Der Black Canyon

Am Besucherzentrum angekommen, riss am Nachmittag nochmal der Himmel auf. Kurz vorm Sonnenuntergang, der hier – 80 km von der chinesischen Grenze entfernt – bereits um 18 Uhr stattfindet. Seitdem das neuntgrößte Land der Welt, dessen Fläche sich geografisch gesehen über vier Zeitzonen erstreckt, zu März 2024 auf eine Zeitzone umgestellt hat, wird es im Osten des Landes besonders schnell dunkel. Bis dahin hatten wir unsere Meter durch den Canyon und unzählige Fotos von den orange-rot leuchtenden Felsformationen allerdings schon gemacht.

Absolut faszinierend, wie sich innerhalb von einer Stunde Fahrt so unterschiedliche landschaftliche Extreme auftun können. Der gesamte Ausflug verdient die absolute Höchstpunktzahl und ist sehr empfehlenswert, wenn man sich die sehenswerten Ecken östlich von Almaty anschauen möchte.

Der Charyn Canyon
Der Charyn Canyon

Auf der Rückfahrt wurden zur Feier des gelungenen Tages noch ein paar Glasmantelgeschosse entschärft. Ein Absacker nach der Rückkehr mit den indischen Weggefährtinnen sollte es dann auch noch sein, bevor wir nach einem erlebnisreichen Tag mit unzähligen, unvergesslichen Eindrücken endgültig ins Bett fielen.

Anreise in die kirgisische Hauptstadt

Mit dem Ausblick auf einen neuen Länderpunkt am nächsten Tag ließ es sich wunderbar schlafen. 6:30 Uhr aus den Federn, 7:00 Uhr los zum Busbahnhof und um 8:00 Uhr für 5 € den Bus besteigen, der uns in 5-6 Stunden in die Hauptstadt Kirgisistans bringen sollte, war der Plan. Könnt eng werden, dachten wir uns, als wir um 9 Uhr – im Bett liegend – auf die Uhr und uns entsetzt anschauten. Das anvisierte Spiel um 16 Uhr war ohne Risiko nicht mehr auf diesem Wege zu erreichen.

Da Risikominimierung das oberste Gebot ist, wenn es um exotischere Länderpunkte geht, nahmen wir uns kurzerhand ein Taxi, welches uns für 60 € in 3,5 Stunden an die Grenze bringen sollte. Am erstbesten Rastplatz beschafften wir noch zwei Konterbierchen, Krabbenchips und ein Sorglospaket für den Fahrer, so dass die Weichen für eine komfortable Anreise gestellt waren.

Grenzübergang nach Kirgisistan

Der Grenzübergang zwischen den beiden Brüdervölkern, die eine gute Nachbarschaft pflegen, verlief reibungslos. Der erste Fuß auf kirgisischem Boden war das Startsignal für eine Horde Kinder, bei uns SIM-Karten an den Mann zu bringen. Wir waren jedoch schon mit einer über die App Yesim bezogenen eSIM versorgt, die es uns erlaubte, auch die Taxifahrerzunft mit einem mehrfachen „Njet!“ zu passieren und in aller Ruhe ein Uber zu ordern. Für 5 € ging es dann nochmal 45 Minuten bis in die Hauptstadt.

Angekommen an unserer Unterkunft, die als solche nicht zu erkennen war, trafen wir glücklicherweise auf den Sohn der Gastgeberin, der uns den Wellblechzaun als Tür vorstellte und die Funktionsweise des für uns völlig fremden Schlosskonstrukts erklärte. Innen offenbarte sich uns eine äußerst spartanische Bleibe, was auch die Teppiche an den Wänden und der Kronleuchter an der Decke nicht kaschieren konnte.

Uns natürlich egal. Der Preis war mehr als erschwinglich und wir machten uns ohnehin sofort auf den Weg zum Ort der Sehnsucht.

Dordoi Bishkek und der RWE
Ziel unseres Fußmarsches war das 3.000 Zuschauer fassende Dordoi-Stadion des 1997 gegründeten Rekordmeisters FC Dordoi Bishkek. Der Eintritt war frei, so dass die gesparten Som (1 € = 100 KGS) direkt in ein Trikot für 11 € investierte werden konnten. Für einen kleinen Burger und ein Getränk wurde insgesamt 1 € fällig.

Dordoi-Stadion, Heimat des Rekordmeisters

Im Vorfeld der Reise gab es regen Austausch mit dem deutschsprachigen Ruslan, der uns als hauptberuflicher Teammanager von Dordoi aus einem Podcast bekannt war. Ruslan hat drei Jahre in Deutschland gelebt, wo er soziale Arbeit für behinderte Menschen geleistet hat. Die Bundesliga, allem voran Borussia Dortmund, verfolgt er heute noch. Nach herzlicher Begrüßung am Spielfeldrand überreichten wir unsere Gastgeschenke: Einen BVB-Wimpel und eine RWE-Cappy, die allerdings ganz offensichtlich nicht für die landestypischen Kopfformen ausgelegt war.

Spieler des Spiels, Kimi Merk, und Teammanager Ruslan mit RWE-Kappe

Den Anpfiff des Spiels verfolgten wir von der kleinen Haupttribüne, wo sich schätzungsweise 400 Menschen aufgehalten haben dürften. Hinterm Tor waren rund um die Ultras Dordoi ca. 50 Leute bemüht, etwas Atmosphäre aufkommen zu lassen.
Alles in allem eine sehr entspannte Veranstaltung, bei der die Gastgeber den FC Bishkek-City mit 3:0 auf die kurze Heimreise schickten. Die Tore fielen allesamt in der 1. Halbzeit. Nach Abpfiff trafen wir nochmal mit Ruslan und ein paar Dortmunder Kollegen zusammen. Komplett war die deutsche Runde allerdings erst, als die Nummer 10 von Dordoi Bishkek mit den Worten „Rot-Weiss Essen? Ich fass es nicht!“ dazu stieß. Das prachtvolle Emblem auf meiner Jacke hatte uns verraten.

Kimi Merk, heutiger Doppeltorschütze und offiziell zum Spieler des Spiels gekürt, ist Nationalspieler in Kirgisistan, wo sein Vater herstammt. Geboren in Primasens und ausgebildet beim 1. FC Kaiserslautern, zog es ihn 2023 mit 19 Jahren zu Pakhtakor Tashkent nach Usebekistan und mit dieser Saison zu FC Dordoi Bishkek.

Nachdem wir alle nochmal für diverse Fotos posiert hatten, trennten sich die Wege nach einer herzlichen Verabschiedung wieder.

Schusswaffengeschäfte in der Wechselstube

Auf Empfehlung von Ruslan kehrten wir im Restaurant Navat ein, um endlich landestypisch zu essen. 15 € pro Nase wurden fällig für 3 Gänge und zwei große Bier. Vorab wurden uns verschieden angerichtete Mantis, gefüllte Teigtaschen, gereicht, die geschmacklich wirklich sehr überzeugen konnten. Zum Hauptgang musste es natürlich das kirgisische Nationalgericht sein: Beshbarmak. Ganz simpel erklärt, handelt es sich dabei um Pferdefleisch auf flachen Nudeln, die in einer Brühe schwimmen. Ganz lecker, aber kulinarisch auch nicht der ganz große Wurf. Zum Dessert gab es Tschak-Tschak, frittierte Teigstreifen mit Honig. Genießbar, aber etwas monoton in Geschmack.

Es folgte der gesellige Teil des Abends. Wir hatten Wochenende, waren in einer zentralasiatischen Hauptstadt und bekamen ein Tanzlokal mit dem vielversprechenden Namen Suzie Wong empfohlen. Bei 30 Minuten Taxifahrt, bevorzugten wir jedoch zunächst das SomeWhere Bistro gleich bei uns um die Ecke. Nette Lokalität einer französischen Auswanderin, aber das Publikum verkam immer mehr zur Freakshow. Als auf Nachfrage, wo denn mehr los sei und wieder der Name Suzie Wong fiel, machten wir uns dann doch auf die Socken.

Das Taxi war schnell bestellt. Und die Stimmung darin schnell gedämpft, nachdem der Fahrer uns mit einem grantigen „No piwo!“ zu verstehen gab, dass wir die gerade geöffneten Büchsen nicht trinken dürften. Da die vorhandenen Soms sicherlich nicht mehr für eine ausschweifende Nacht ausreichen würden, baten wir um einen kurzen Zwischenstopp an einer Wechselstube. Die hatten um Mitternacht längst nicht mehr alle auf. Während Wumme nun zwei Dosen austarieren durfte, huschte ich schnell in die 4m² große Wechselstube, die unser Fahrer auserkoren hatte. Der junge Mann hinterm Schalter nahm mein europäisches Aussehen sogleich zum Anlass für Smalltalk. Das übliche Programm. Weniger üblich war, dass mitten in der Nacht jemand mit einer Knarre in der Hand in die Wechselstube kommt. Mir stockte kurz der Atem, als der Unbekannte den Arm hochnahm. Statt in den Lauf, guckte ich allerdings nur dumm aus der Wäsche, als die Schusswaffe in das eigentlich für Devisen angedachte Schiebefach gelegt und von dem maximal 20 Jahre alten Typen hinter der Scheibe entgegengenommen und unter den Tresen gelegt wurde. Auch noch nicht erlebt.

Ich verzichtete anschließend sowohl auf den angebotenen Austausch von Social Media, wie auch auf ein allzu gründliches Nachzählen der erhaltenen Scheine. Keine Ahnung, wer da gerade wem welchen Gefallen getan hat, aber nach dem Bierverbot im Taxi war das der zweite kleine Schock des Abends.

Auf der Flaniermeile angekommen, ging es ganz landestypisch zunächst in den Dublin Pub, der wenig mit Dublin und noch weniger mit einem Pub zu tun hatte. Die Lokalität glich eher der Lobby eines 5-Sterne-Hotels. Allerdings nicht in der Hauptsaison, so leer wie es war. Immerhin waren Eintritt und Garderobe frei, so dass wir nach zwei frisch gezapften Bierchen das vielfach empfohlene Suzie Wong ansteuern konnten. Die strengere Tür und der erhobene Eintritt ließen auf Besserung hoffen, aber auch hier herrschte tote Hose. Nach Feststellung, dass es kein gezapftes Bier gibt, verlangten wir bei Susie persönlich unseren Eintritt zurück. Das Nachtleben in Bishkek war damit endgültig durchgefallen. Dafür investierten wir das gesparte Eintrittsgeld in ein Komforttaxi und ließen uns erstmals ohne Riss in der Frontscheibe in die Bleibe kutschieren.

Schwierige Recherche zum kirgisischen Nationalsport Kok Boru

Am nächsten Morgen stand noch ein großes Highlight vor uns. Der Besuch einer Partie Kok Boru war geplant. Kok Boru, in anderen Ländern auch Buzkashi genannt, ist kirgisischer Nationalsport und quasi das Gegenteil von Fußball: Das Tor ist rund und liegt auf dem Boden, gespielt wird mit der Hand, bewegt wird sich auf Pferden und der Spielball ist eine tote Ziege, der Kopf und Hufe abgetrennt wurden. Ein kurzes Popularitätshoch dürfte diese extravagante Sportart erlangt haben, als sich Sylvester Stallone 1988 in Rambo III ein Duell mit den afghanischen Mujahideen lieferte. Die Geschichte der Sportart selbst geht auf eine jahrhundertealte Tradition der Nomadenvölker zurück. Die von der Jagd heimkehrenden Reiter entrissen sich gegenseitig den erlegten, grauen Wolf, den Kok Boru, um ihn vor die Jurte des Dorfältesten zu legen und entsprechende Anerkennung zu bekommen.

Volkssport Kok Boru

Das Unterfangen diesem Spektakel beizuwohnen, stellte sich im Vorfeld bereits als die größte Herausforderung der Reise dar. Große Veranstaltungen gibt es, wenn das Neujahrsfest Nowruz gefeiert wird oder die World Nomad Games stattfinden. Ansonsten war es nahezu unmöglich, Spielpläne und Ansetzungen oder sonst irgendwelche Informationen im Vorfeld zum Spielbetrieb herauszufinden. Die Recherchen verliefen oft im Sande. Der einzige bekannte Anlaufpunkt vor Ort, das historische Ak-Kula-Hippodrom, ist vor nicht allzu langer Zeit erst stillgelegt worden. Marode und einsturzgefährdet sei das Stadion. Auf der Fläche soll nun ein neuer Stadtteil für 60.000 Menschen entstehen. Schulen, Krankenhäuser, Hotels, Grünflächen und ein künstlicher See sind in Planung. Gesamtvolumen: 3 Milliarden Dollar.

Kurz vor der Reise flatterte dann doch noch die Antwort auf eine meiner vielen E-Mails ein. Ein netter Kontakt namens Asylbek Rajiev, Executive Director der Kyrgyz Community Based Tourism Association (KCBTA), ließ mich wissen, dass vielerorts keine Wettkämpfe mehr stattfinden, weil es die Reiter wieder zur landwirtschaftlichen Arbeit zieht. Dann der große Hoffnungsschimmer: Zwei Koordination! An diesem Ort, ohne ihn näher zu beschreiben, könnte am 20. April 2025 Kok Boru gespielt werden. Irgendwann um die Mittagszeit herum. Alles ohne Gewähr!

Zwei Koordinaten und eine grobe Startzeit waren also die Brotkrumen, an die sich unsere Hoffnung klammerte. Die stieg ein wenig, als die Satellitenbilder uns den Campus der kirgisisch-türkischen Manas-Universität zeigten und in der Nähe auch eine große Freifläche mit zwei kleinen Kreisen zu erkennen war. Das musste doch das Spielfeld sein!

Kleine Randnotiz, die nicht unerwähnt bleiben darf, wenn es um Kirgisistan geht: Das Manas, welches der Universität ihren Namen gibt, ist mit 500.553 Versen das umfangreichste Epos der Welt, immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe – so wie Kok Boru – und das zentrale Symbol der kirgisischen Identität.

Jagd auf den Ziegenkadaver

Um die Chance auf das Spektakel nicht leichtfertig zu verspielen, steuerten wir die Koordinaten an jenem Tag bereits um 10 Uhr an. Vor Ort trafen wir allerdings nur auf ein paar Kids, denen wir durch ein Loch im Zaun auf das Gelände folgten. Tatsächlich standen wir nun inmitten eines riesigen Sandplatzes, an dessen Enden jeweils ein Tay Kazan, das Tor im Kok-Boru, stand. Mit Händen und Füßen gaben uns die Kinder zu verstehen, dass hier um 13 Uhr die Pferde aufkreuzen werden. Drei Stunden also noch.

Wir nutzten den Puffer, um in einem nahegelegenen Lokal ein reichhaltiges Frühstück zu absorbieren. Es gab Omelette mit Sucuk, ein Süppchen und frischen Orangensaft. Im Supermarkt deckten wir uns noch mit Getränken und reichlich Süßkram ein, um unseren jungen Informanten eine kleine Freude zu machen. Im Gegenzug bekam ich eine selbstgemachte Peitsche geschenkt, die ich bis heute als Andenken in Ehren halte.

Mit den kirgisischen Kok-Boru-Kids vorm Tay Kazan

Um bloß nichts zu verpassen, waren wir bereits um 11:15 Uhr zurück, genossen mit unseren neuen Freuden auf der Tribüne die Mittagssonne und spielten etwas Fußball. Mit unseren süßen Einkäufen konnten wir dabei so manche, aber nicht jede Klopperei im Keim ersticken. Die Gründe, wieso die Raufbolde plötzlich mit ihren Peitschen aufeinander einprügelten und sich mit Steinen bewarfen, waren aufgrund der Sprachbarriere nicht immer nachvollziehbar.

Eine Stunde später, um 12:15 Uhr, herrschte plötzlich helle Aufruhr. Ein deutscher Aquella-Transporter mit der Aufschrift „Getränke-Heimdienst“ lieferte den ersten Gaul und versetzte die Schar an Kindern damit in völlige Ekstase. Der ganze Tross stürmte wie von der Tarantel gestochen los und ließ dabei nur noch eine Staubwolke zurück. Voller Freude wurde der ratternde Transporter umlagert, um das Pferd in feierlich in Empfang zu nehmen.

Internationale Getränkelieferung

Anschließend war wieder viel Geduld gefragt. Es dauerte weitere 3 Stunden, bis um 15:15 Uhr endlich alle Reiter ihre Zossen beisammen und startklar hatten. Die Zeit verging allerdings recht zügig, weil wir als ortsfremde Zuschauer viele Blicke auf uns zogen und begehrte Gesprächspartner waren.

16 Pferde standen letztlich auf dem Feld. Bevor es richtig losging, durften auch die Kinder immer wieder über das Spielfeld reiten und ihr Können unter Beweis stellen. Stets unter Einsatz der selbstgebauten Peitschen. Einer der Besucher war des Englischen mächtig und klärte uns über das nun stattfindende Spiel auf.

Zum Aufwärmen gab es zunächst einen Spielmodus mit Einzelwertung, bei dem viel Tempo gefragt war. Danach folgte das Mannschaftsspiel, das „Ziegenpolo“. Vier Reiter je Team stehen sich zum Kampf um den kopflosen Ziegenkadaver gegenüber, der zum Start des Spiels in der Mitte platziert wird. Auf Signal des Schiedsrichters stürmen die Spieler auf ihren Pferden los und versuchen die knapp 30 kg schwere Ziege aufzunehmen. Ziel ist es, diese im gegnerischen Tay Kazan unterzubringen.

Dabei geht es nicht gerade zimperlich zu. Insbesondere rund um die Tore, die man sich im Kok Boru wie übergroße, liegende Reifen aus Beton vorstellen kann, kracht es immer sehr ordentlich. Pferde kollidieren. Menschen werden gegen den Beton geschleudert, geraten dabei auch schon mal unter die Hufe. Bei den Verlagerungen auf dem Spielfeld sind die Reiter mit irrem Tempo unterwegs. Es kommt zu Stürzen bei Mensch und Tier. Spieler werden überrollt oder gar von ausschlagenden Hufen erwischt. Im März erst gab es einen Todesfall beim Kok Boru.

In Kasachstan werden die Tore seit 2017 aus diesen Gründen nur noch auf dem Boden aufgemalt, während das Spielgerät im Nachbarland zumeist nur eine Gummiziege ist.

Für die Pferde viel tragischer als Kok Boru sind hingegen die langen Rennen, die in Kirgisistan stattfinden. Das „Alaman Beige“ über 25 bis 30 Kilometer gilt als das prestigeträchtigste Rennen des Landes. Über die tödlichen Folgen berichtete die kirgisische Nachrichtenseite Kloop.kg in aller Ausführlichkeit.

Hier und heute geht es nicht ganz so extrem zur Sache. Zwar darf die Gewinnermannschaft sich über ein kleines Preisgeld freuen, dass vorm Spiel bei den Zuschauern gesammelt wird, aber um das große Geld geht es nicht. Wir lassen uns berichten, dass es sich bei den Sportlern um eine Hobbytruppe handelt, die zusammen in einem Elektromarkt arbeitet. Die Gemeinschaft steht im Vordergrund. Wenn das letzte Tor gefallen ist, kommen die Spieler am Abend nochmal in einem lokalen Restaurant zusammen, wo das „Spielgerät“, die Ziege, so makaber es auch klingt, zubereitet und gemeinschaftlich verzehrt wird. Das Pendant zur Kiste Bier des deutschen Amateurfußballers.

Das Hippodrom an der Kirgisisch-Türkischen Manas-Universität


Gegen 17 Uhr waren die Spiele beendet. Wir hatten mittlerweile sieben Stunden an diesem einen Ort verbracht. Ein hohes Opfer, wo der Ala-Artscha-Nationalpark und der Yssyk-Köl, der größte See des Landes, auch in erreichbarer Nähe waren. Da wir bereits sehr viel Natur gesehen hatten, war es trotz aller Umstände aber im Nachhinein die richtige Entscheidung, diese Chance wahrgenommen zu haben, einem derart kuriosen Erlebnis beizuwohnen. Fern ab aller Touristen so intensiv in die kirgisische Lebenswelt einzutauchen, funktioniert nur beim Kok Boru und das war es die Zeit definitiv wert.

Rückreise: Der schlimmste Flug meines Lebens

Nach herzlicher Verabschiedung riefen wir ein Taxi zum Westbahnhof. Dass dieser bereits im Oktober 2024 seinen Betrieb eingestellt hat, fiel unserem Fahrer natürlich erst zwei Minuten vor Ankunft ein. So ging es nochmal weiter zum zentralen Busbahnhof Avtovaksal, von wo uns ein Bus letztlich für 6 Euro in 4-5 Stunden nach Almaty bringen sollte. Zuvor stand nach dem langen Tag am Hippodrom noch eine Stärkung an. Bei Dönerpreisen, wie vor 15 Jahren noch auf der Altendorfer Straße, durften es gleich zwei Bahnhof-Kebabs pro Nase sein.

Nach der Rückkehr in Kasachstan versuchten wir uns an dem Check-in bei AJet, um frohen Mutes am nächsten Morgen den angekündigten Höllentrip mit zwei Umstiegen anzutreten. Leider kam für einen der drei Flüge kein Boarding Pass an. Das Problem war über die Hotline nicht zu lösen, so dass es mit schlechten Vorzeichen – nachdem die letzten Tenge verkonsumiert wurden – ins Bett ging. Am Flughafen wusste man uns am Schalter aber glücklicherweise schnell zu helfen.

Die Rückreise verlief dann weitestgehend problemlos. Nur die Powerbank war plötzlich ein Problem und sollte an der Sicherheitskontrolle abgegeben werden. Nach ellenlanger Diskussion drückte die Dame vom Sicherheitsdienst den kleinen Energielieferanten wieder ab und wurde dafür mit einem Lächeln belohnt. Das verflog allerdings schnell, als dieselbe Dame mir hinterherrannte und das Gerät wieder abnahm. Höhere Mächte hatten dann doch was dagegen. Ärgerlich!

Schlimmer erwischt hingegen hatte es einen alten Bekannten. Wir trafen den Hannoveraner, der uns beim Essen in der Jurte sein Leid mit AJet klagte, am Gate. Er musste seinen Rückflug, der nach einer Umbuchung einfach nicht mehr im System auftauchen wollte, für läppische 530 € ein zweites Mal buchen.

Es folgte der erste Zwischenstopp in Ankara. Sechs Stunden blieben, sich ein Bild von der türkischen Hauptstadt zu machen. Mit der Kocatepe-Moschee, größter Sakralbau der Stadt, und dem Anıtkabir, dem Atatürk-Mausoleum, klapperten wir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten ab. Ansonsten machte die Stadt einen recht unspektakulären Eindruck, so dass wir schnell einen Haken hinter dem Sightseeing machen konnten. Der in einem trostlosen Imbiss verzehrte Adana-Teller blieb ebenso recht blass.

Anıtkabir, das Atatürk-Mausoleum in Ankara

Der zweite Flug des Tages dauerte gerade mal eine knappe Stunde und brachte uns nach Istanbul. Nach weiteren drei Stunden, die wir totgeschlagen hatten, drängelten wir uns zum dritten und letzten Mal in einen Flieger. Kurioserweise und zu allem Überfluss, wie ich im Nachgang urteilte, traf ich dabei einen Arbeitskollegen. Wir beide ahnten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich wenig später noch in den Flugverkehr des Sabiha Gökçen Airports eingreifen würde und den schlimmsten Flug meines Lebens vor mir hatte.

Die AJet-Maschine stand bereits eine Weile auf dem Rollfeld, wartete aber scheinbar vergeblich auf die Starterlaubnis. Bald eine Stunde verging, als die Menschen im Flugzeug immer unruhiger wurden. Die Turbinen dröhnten. Die Luft war schlecht. Erste Passagiere beschwerten sich über Kerosingeruch.

Parallel zur allgemeinen Stimmung an Bord ging es auch mit meinem persönlichen Wohlbefinden plötzlich rapide bergab. Während ich blasser wurde als der Adana-Teller in Ankara schmeckte, konnte ich gerade noch feststellen, dass die kümmerliche Billigairline scheinbar selbst die Kotztüten wegrationalisiert hat. Mit letzter Kraft versuchte ich meine Sitznachbarn um Hilfe zu bitten. Das allerdings wohl weder schnell noch energisch genug. Ich spürte noch, dass die Motorengeräusche immer lauter wurden, weil der Flieger gerade zum Start ansetzte. In meiner persönlichen Wahrnehmung wurde die Lärmkulisse in diesen Momenten jedoch immer dumpfer.

Dann wurde es dunkel. Ich war auf meinem Sitz zusammengesackt und kurz weggetreten, so dass ich mir alle weiteren Erzählungen nur im Nachgang schildern lassen konnte. Wumme sprang sogleich zur Hilfe. Während die Stewardessen ihn anbrüllten, sich wieder hinzusetzen, entgegnete er mehrfach „Emergency!“. Ich hätte mein Feedback an AJet gerne anderweitig abgegeben, quittierte unterdessen aber notgedrungen die letzten Rationalisierungsmaßnahmen der Airline mit einem warmen Regen aus heimischem Spezialitäten. Der Pilot brach den Start daraufhin ab, was ich erst einige Wochen später auf einem Firmenevent von meinem Arbeitskollegen erfuhr. Unnötigerweise saß der gerade mal drei Reihen vor mir.

Worüber es sich mit Abstand lachen lässt, war in jenen Momenten die größte Erniedrigung seit dem Abstiegsspiel gegen Lübeck 2004. Der verspätete Rückflug verkam zu einer schamvollen Tortur. Umso größer dann die Freude, nach 26 Stunden von Tür zu Tür endlich ins eigene Bett fallen zu können, um sechs Stunden später schon wieder den beruflichen Verpflichtungen nachzugehen.

Was sich glücklicherweise auch in widrigsten Situationen nicht ausspeien lässt: Unzählige Erlebnisse und Erinnerungen, die uns in den letzten Tagen reicher gemacht haben. Traumhafte Fotos von der natürlichen Schönheit Zentralasiens. Großartige Begegnungen mit Menschen aus anderen Lebenswirklichkeiten. Und die Länderpunkte 41 und 42.

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