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Die zufriedene Unzufriedenheit:

Rot-Weiss Essen ohne Unruhe ist wie die Antarktis ohne Eis. In der Länderspielpause ist mal wieder Zeit, ein wenig auf die aktuelle Stimmungslage an der und rund um die Hafenstraße 97 A zu schauen. Die erscheint deutlich ambivalenter zu sein als der Blick auf die Tabelle vermuten lässt.

Rot-Weiss Essen ohne Unruhe ist wie die Antarktis ohne Eis

In der Länderspielpause ist mal wieder Zeit, ein wenig auf die aktuelle Stimmungslage an der und rund um die Hafenstraße 97 A zu schauen. Die erscheint deutlich ambivalenter zu sein als der Blick auf die Tabelle vermuten lässt. Rot-Weiss Essen ist Tabellenvierter, punktgleich mit Platz 2 und 3 und nur 3 Punkte hinter Platz 1. Mit 27 Toren hat man auch den viertbesten Angriff, 22 Gegentore, das ist gemeinsam mit zwei weiteren Teams Platz 7 in der Liga, verhindern eine noch bessere Platzierung. Fakt ist, RWE steht mit akuter Tuchfühlung zu den Aufstiegsplätzen für die Zweite Bundesliga so gut da wie seit fast 20 Jahren nicht mehr.

Ein Grund zur uneingeschränkten Freude? Mitnichten, schließlich wäre Rot-Weiss Essen ohne Unruhe wie die Antarktis ohne Eis. Zwar arbeitet der Mensch leider auch weiterhin an der zukünftigen Enteisung der Antarktis, aber ein Verein wie RWE in fortwährender Ruhe und Harmonie ist nahezu unvorstellbar.

Was sind die Gründe dafür, dass trotz der guten sportlichen und auch finanziellen Entwicklung sich bei vielen Anhängern rund um die Hafenstraße 97 A zumindest noch keine Euphorie breit machen möchte? Es ist wie üblich eine Suche nach den Grautönen. Denn sehen wir einmal von notorischen Schwarzmalern ab, für die es immer 5 Minuten nach Zwölf ist, gibt es auch differenziertere Betrachtungsweisen.

Zunächst einmal haben alle Recht, die faktisch auf die großartige sportliche Entwicklung hinweisen, denn RWE ist nicht nur aktuell ziemlich gut unterwegs, sondern saisonübergreifend im Kalenderjahr 2025 so gut wie keine zweite Mannschaft. In 33 Partien haben die Essener 65 Zähler und damit einen Gesamtschnitt von 1,97 Punkten aufzuweisen. Aktuell liegt der Punkteschnitt der Saison 25/26 bei 1,86 Zählern und ist damit zwar leicht schwächer, aber trotzdem voll im Soll.

Die Befürchtungen, RWE könne unter Uwe Koschinat nicht an die starke Rückrunde der Vorsaison anknüpfen, erscheinen somit als unbegründet. Solche Probleme wie Rot-Weiss Essen hätten viele andere vor Saisonbeginn hoch gewettete Klubs gerne. Allen voran 1860 München, das mit seinen Bundesligastürmer-Neuzugängen Kevin Volland und Florian Niederlechner die Liga nach vielen Expertenmeinungen in Schutt und Asche schießen würde. In der Zwischenbilanz liegt eher 1860 München selbst in Schutt und Asche, steht nur zwei Punkte vor einem Abstiegsrang und ist überdies noch immer massiv abhängig von seinem jordanischen Investor Hasan Ismaik. Das Allheilmittel Trainerwechsel hat der Klub ebenfalls mit nur mäßigem Erfolg bereits angewendet. Unter Neucoach Marcus Kauczinski gab es jüngst eine saftige 0:4 Klatsche in Regensburg. Ein Pulverfass, auf dem die Löwen sportlich und finanziell sitzen.

Mit Hansa Rostock und dem 1. FC Saarbrücken liegen zwei weitere Topfavoriten nur im biederen Mittelfeld. RWE hingegen läuft der Musik nicht hinterher und spielt selbst oben mit voller Kapelle. Somit sind wahrscheinlich die absolut meisten Essener-Anhänger derzeit wahrhaft zufrieden. Dennoch mischt sich bei nicht wenigen auch partielle Unzufriedenheit in den Cocktail. Über Tabellenstand und Punktausbeute kann und darf man sich nicht beschweren. Ob man darüber hinaus jedoch so viel Dankbarkeit empfinden und sich zu allem bei und rund um Rot-Weiss Essen in stille Zustimmung hüllen und sich Wohlfühlatmosphäre breit machen muss, darf jedoch auch in Frage gestellt werden.

Das fängt bei Coach Uwe Koschinat an. Der hat es zwar im Wesentlichen allen Kritikern gezeigt, aber Restzweifel sind noch immer angebracht. Denn es scheint so, als müsse der Coach hin und wieder zu seinem und damit zu unser aller Glück gezwungen werden. So begann die Saison etwas holperig und das von Koschi bevorzugte System der Fünferkette brachte weder die gewünschte defensive Stabilität noch offensive Durchsetzungskraft. Nach viel öffentlicher Kritik und auch internen Hinweisen ließ Koschinat sich fortan auf die Viererkette ein, überraschte aber dort mit dem nächsten verwunderlichen Schachzug. Denn der Innenverteidiger, der der Umstellung zum Opfer fiel, sollte Tobias Kraulich sein. Kraule war und ist in den Augen vieler Beobachter aber der mit Abstand spielstärkste zentrale rot-weisse Verteidiger, der zudem aggressiv verteidigt und vorne für Tore sorgen kann. Erst die Verletzung von Michael Schultz bei Erzgebirge Aue führte zu einem erzwungenen Umdenken. Kraulich kam ins Spiel und performte sofort und auch in den Partien danach so exzellent, dass er nicht mehr aus der Startelf genommen werden konnte. Und offen gesprochen überraschte das niemanden, der Kraulichs Potenzial zuvor wahrgenommen hatte.

Offen blieb noch die Personalie des eingesetzten Stürmers. Gleich drei nominelle Neuner hatten die Kaderplaner dem Coach zur Verfügung gestellt, lange Zeit stürmte jedoch der kleine Ramien Safi von Beginn an. In den letzten Partien gelangen aber sowohl Marek Jansen als auch Jaka Cuber Potocnik, der nun leider länger verletzt ausfällt, wichtige Tore. Zudem mutet es teilweise seltsam an, wenn gegen massierte Deckungen Sprinter Safi die Lücke sucht, während die Boxstürmer die Bank bevölkern, oder bei Essener Führungen umgekehrt die im Anlaufen weniger starken Janssen und Potocnik dem Gegner dann mehr Aufbauruhe ermöglichen, als wenn der wuselige Safi diese in Angst und Schrecken versetzt und zudem für das nun mögliche schnelle Umschaltspiel fehlt. In dieser Hinsicht verstehen manche RWE-Fans Uwe Koschinat bislang oft nicht und solange die Kritik sachlich und fundiert bleibt, darf das trotz des Tabellenstandes, der dem Trainer unter dem Strich Recht gibt, auch ausgesprochen werden, ohne dass Social-Media-Akteure den „Dauernörglern“ Stadionverbote aussprechen möchten.

Immerhin hat RWE in dieser Spielzeit mit einem Personaletat von 7,2 Millionen € deutlich beim kickenden Personal aufgestockt und es handelt sich nicht um das Wunder von der Hafenstraße, dass dieser Kader nun auch oben mitmischt. Das ist freilich ebenfalls keine Garantie für Erfolg, wie die genannten Beispiele 1860, Rostock und Saarbrücken zeigen, sodass in Summe gute Arbeit geleistet wird in Essen.

Womit man dann bei der Kaderplanung und den Kaderplanern wären. Marcus Steegmann und Christian Flüthmann haben eine starke Truppe zusammengestellt. Etwas verwunderlich erscheint die Personalplanung jedoch in Hinblick auf das bevorzugte Spielsystem des Cheftrainers. Während man im Vorjahr dem den Ballbesitzfußball propagierenden Christoph Dabrowski eine Truppe zusammenbaute, die sich später unter Uwe Koschinat im kompakten Verteidigen und schnellem Umschaltspiel deutlich besser zurechtfand, erschien es zumindest zu Beginn der Saison umgekehrt. Eine langfristige Spielphilosophie des Vereins, die klar vorgegeben ist wie z.B. beim SC Verl, fehlt in Essen und das Pferd wird immer neu aufgezäumt. Vielleicht tut Uwe Koschinat sich deswegen manchmal schwer damit, einen Kader zu führen, der nicht zu seiner bevorzugten Spielidee passt.

Darüber hinaus ist das kickende Personal alles andere als einfach zu führen. Woche für Woche muss Koschinat Spielern einen Bankplatz oder sogar einen Rausschmiss aus dem Spieltagskader erklären, die allesamt den Anspruch haben, Stammspieler zu sein. Aktuell dienen da Luca Bazzoli und Jannik Mause als Paradebeispiele und auch Kapitän Michael Schultz. Wo da in der Winterpause noch Platz und Bedarf für hochwertige Neuzugänge sein soll, wie jüngst medial gefordert worden war, bleibt sehr fraglich. Diesen bereits jetzt hochkarätigen Kader zu moderieren, ohne dass das Gesamtgefüge wackelt, ist kein Zuckerschlecken. Von daher ist es bemerkenswert, dass RWE sich nun aber unter Koschinats Führung von Woche zu Woche gefestigter, selbstbewusster und erfolgreicher zeigt und den meisten Gegnern sogar ein dominantes Ballbesitzspiel aufzudrängen vermag. Die Mannschaftsstruktur wirkt intakt, die Abläufe verfestigen sich zunehmend. Setzt sich diese Tendenz so fort, werden auch die zufriedenen Unzufriedenen schon sehr bald nur noch Zufriedene sein.

Um diesen sportlichen Aufschwung finanziell zu ermöglichen, fahren die Vorstandsmitglieder Marc-Nicolai Pfeifer und Alexander Rang neben der erfolgreichen Sponsoren-Akquise einen teilweise rigiden Sparkurs, der auch nicht alle im RWE-Umfeld beglückt. Das gilt ebenso für die immer noch ausgebliebene Klärung der genauen Gründe, warum Rot-Weiss Essen sich nicht an der Initiative zur Regionalligareform beteiligen möchte, die vielen RWE-Anhängern aufgrund unrühmlicher Viertligakapitel der Vereinsgeschichte sehr am Herzen liegt. Die Führung wird als engagiert, aber auch manchmal etwas unterkühlt wahrgenommen.

Fazit sowohl auf als auch neben dem Feld nimmt RWE eine rasant positiv erscheinende Entwicklung. Das erfreut alle, die ein rot-weisses Herz haben. Im Stadion ist die Unterstützung bedingungslos. Mit Enthusiasmus und Begeisterung geben die RWE-Anhänger ihre Mannschaft zuhause und auswärts immensen Rückenwind. Aber mündige Fans sind nicht nur Claqueure für die Protagonisten in ihrem Verein, sondern sie dürfen und sollten hin und wieder den Finger in die Wunde legen, um den Weg des Klubs produktiv kritisch zu begleiten und nach ihren Möglichkeiten mitzugestalten. Das gilt umso mehr in erfolgreichen Zeiten, in denen man sich manchmal gerne blenden lässt. Umgekehrt muss man nicht mit Riesenlupen das Haar in der Suppe suchen und Gourmetfußball einfordern. Fußball in Essen ist nicht Feinkost Käfer, sondern eben rustikale Pommes rot-weiss.

NUR DER RWE!

Sven Meyering